Viel Gier, wenig Kontrolle

MAINZ/SPEYER. Aufgeblähte Bürokratie, Spesen-Betrügereien, Misswirtschaft, überzogene Gehälter: Der Speyerer Staatsrechtler Hans Herbert von Arnim rechnet mit der EU, ihren Abgeordneten und ihrer Verwaltung in einem Buch ab. Die Interessen der Bürger würden in Brüssel untergepflügt, sagt der streitbare Professor im Interview mit dem TV.

Sie rechnen mit einer EU der Selbstbedienung, Verschwendung und Bürgerferne ab. Was ist das für ein "Europa-Komplott"?von Arnim: Die Bezeichnung "Komplott" war ursprünglich auf die Europaabgeordneten Martin Schulz, Karl-Heiner Lehne und Willi Rothley gemünzt, die die Öffentlichkeit mit gefälschten Zahlen fütterten, um das umstrittene Abgeordnetenstatut durchzusetzen. So sollte die geplante Erhöhung von Bezügen und der Versorgung heruntergerechnet werden. Die Bezeichnung "Komplott" lässt sich aber auch auf viele andere Bereiche übertragen. Gibt es tatsächlich die Herrschaft der Bürokraten und Lobbyisten?von Arnim: In der Tat: Die Kommission, die Verwaltung, der Europäische Gerichtshof und fast alle anderen Organe streben nach einem immer größeren und intensiveren Europa, andererseits wollen Lobbyisten und die Mitgliedsstaaten vor allem ihre eigenen Interessen sichern. Kein Wunder, dass dabei das Gesamtinteresse und die Ansichten der Bürger untergepflügt werden. Steht der Bürger diesem "Brüsseler Treiben" machtlos gegenüber?von Arnim: Genau das ist das zentrale Problem. Der Bürger hat nichts zu sagen. Europa entwickelt sich über seinen Kopf hinweg, und er durchschaut die Mechanismen nicht. Er weiß nicht einmal, dass das Hauptorgan bei der Gesetzgebung der Ministerrat ist. Bei der Wahl des EU-Parlaments überblickt er nicht, welche Konsequenzen sein Abstimmungsverhalten hat. Sie schreiben von "organisierter Unverantwortlichkeit" bei der EU. Ist das nicht übertrieben?von Arnim: Nein, keines der europäischen Organe kann wirklich für seine Entscheidungen verantwortlich gemacht oder vom Bürger zur Verantwortung gezogen werden. Für den Wähler ist nicht erkennbar, wem Fehlentwicklungen oder Erfolge zuzurechnen sind. Hat das Nein bei den Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden zur EU-Verfassung als Misstrauensvotum Folgen?von Arnim: Eine Folge haben die Abstimmungen bereits: Es ist eine neue Nachdenklichkeit in der EU entstanden. Die muss genutzt werden. Sie haben oft die deutschen Verhältnisse kritisiert. Ist in Europa alles noch viel schlimmer?von Arnim: Ja. Die Entmachtung der Bürger, die organisierte Unverantwortlichkeit, die Demokratiedefizite, die Missbräuche: Alles ist auf europäischer Ebene noch sehr viel ausgeprägter und gravierender als bei uns. Das Spesensystem, das Europaabgeordnete sich in eigener Sache verschafft haben, ist legalisierter Betrug. Die europäische Parteienfinanzierung missachtet sämtliche Vorkehrungen, die das Bundesverfassungsgericht in Deutschland erzwungen hat, um Missbrauch zu verhindern. Die Bezahlung europäischer Kommissare, Beamter und Richter ist überzogen. Ein Richter am EU-Gerichtshof verdient fast dreimal so viel wie ein deutscher Richter am Bundesgerichtshof. Sie nennen einzelne Abgeordnete bei Ihren Angriffen mit Namen. Haben Sie Reaktionen?von Arnim: Die FDP-Fraktionsvorsitzende im Europaparlament, Silvana Koch-Mehrin, empfiehlt das Buch jedem ihrer Kollegen zur Lektüre. Aus dem Stab des Europäischen Bürgerbeauftragten heißt es, meine Kritik sei nur zu berechtigt. Die Verantwortlichen für die Fehlentwicklungen halten sich dagegen bisher bedeckt. Ist die EU noch zu retten?von Arnim: Sie muss fortleben und wieder an Kraft gewinnen. Gerade deshalb ist es erforderlich, Missstände beim Namen zu nennen und auf ihrer Beseitigung zu bestehen. Mit Professor von Arnim sprach unser Redakteur Joachim Winkler. Hans Herbert von Arnim: Das Europa-Komplott. Wie EU-Funktionäre unsere Demokratie verscherbeln. Verlag Hanser.

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