Was bleibt, ist die Angst

TRIER/MAINZ. Seit drei Jahrzehnten setzt sich der gemeinnützige Verein "Weißer Ring" für die Rechte und Probleme der Opfer von Straftaten ein. Zwar hat sich im Bereich des Opferschutzes in den vergangenen Jahren einiges verbessert, dennoch ist eine Vielzahl der Betroffenen auf Hilfe angewiesen. Welcher Art auch immer.

 Täter gefasst, Opfer vergessen: Viele Verbrechensopfer quält noch Jahre nach der Tat die Angst. Foto: TV-Archiv/Willi Speicher

Täter gefasst, Opfer vergessen: Viele Verbrechensopfer quält noch Jahre nach der Tat die Angst. Foto: TV-Archiv/Willi Speicher

Als die 17 Gründungsmitglieder des Weißen Rings im Juni 1977 ihre Satzungsziele erstmals vorstellen, findet das in der Öffentlichkeit vergleichsweise wenig Beachtung. Zu sehr ist man in Deutschland mit den Geiselnahmen, Entführungen und Ermordungen durch RAF-Mitglieder beschäftigt. Den Forderungen von Terroristen werde man sich nicht beugen, stellt Bundeskanzler Helmut Schmidt klar. Doch die RAF mordet und entführt weiter - bis sie schließlich 1998 ihre Auflösung bekannt gibt. Was bleibt, sind die gefangenen, noch lebenden ehemaligen RAF-Mitglieder. Und die Opfer - die zwar von der Gesellschaft schnell vergessen werden, die selbst aber nicht so schnell vergessen können. 6,5 Millionen Straftaten jedes Jahr

"Aus Opfersicht ist die vorzeitige Freilassung der früheren RAF-Rädelsführer nur schwer nachvollziehbar", sagt Karl-Heinz Weber, stellvertretender Leiter des Mainzer Landeskriminalamtes und Landesbeauftragter der Opferhilfsorganisation "Weißer Ring". Seit 30 Jahren setzt sich der Verein für die bei der Verfolgung von Straftaten oft vergessenen Opfer ein - und das sind nicht wenige. Rund 6,5 Millionen Straftaten werden laut Polizeistatistik jedes Jahr verübt, und davon liegen allein 200 000 Fälle im Bereich der Gewaltkriminalität. So genannten Rohheitsdelikten und Straftaten gegen die persönliche Freiheit fallen im Jahr mehr als 700 000 Frauen, Männer und Kinder zum Opfer. "Für die Hinterbliebenen ist es besonders belastend, dass es an einer klaren Anerkennung von Schuld und auch der Bekundung von Reue fehlt", ergänzt Weber im Bezug auf die vor zwei Monaten heiß diskutierten RAF-Begnadigungen. Doch unabhängig davon, ob ein Täter sein Handeln bereut, oder ob bei der Straftat körperliche Gewalt angewendet wurde: Was bleibt, ist in vielen Fällen die Angst, und die kann ein kleiner Einbrecher mindestens genauso verbreiten wie ein im Fernsehen ausgestrahlter RAF-Terrorist. Wer weiß, dass in sein Haus eingebrochen wurde, wird sich dort nie wieder wirklich sicher fühlen - auch wenn der Einbrecher noch so wenig Spuren hinterlassen und Diebesgut mitgenommen hat. So fordert der Weiße Ring unter anderem, "dass der Wohnungseinbruch in den Katalog der Straftaten aufgenommen wird, die zwar keine tätlichen Angriffe sind, aber oft die gleichen gesundheitlichen, meist seelischen Folgen bei den Opfern auslösen und deshalb nach dem Opferentschädigungsgesetz entschädigt werden". In den 30 Jahren seines Bestehens hat der Weiße Ring viele dieser Opfer begleitet, sei es in persönlichen Betreuungsgesprächen, mit Hilfe bei Behördengängen oder aber durch Ausstellen eines Beratungsschecks. Über 200 000 Betroffenen konnte so in den vergangenen drei Jahrzehnten allein finanziell geholfen werden. Dabei ist der Verein auf Spenden und die Beiträge der mittlerweile bundesweit 600 000 dem Verein angehörenden Menschen angewiesen. "Die Mitglieder, wie auch die ehrenamtlichen Mitarbeiter, kommen aus allen Schichten unserer Gesellschaft und aus allen Berufsgruppen", erklärt der Landesvorsitzende. Sehr häufig komme es auch vor, dass Opfer, denen der Weiße Ring helfen konnte, selbst zu Mitgliedern würden, "oder sich sogar als ehrenamtliche Mitarbeiter engagieren." Auf Landesebene hat der Ring etwa 3200 Mitglieder, darunter 210 ehrenamtliche Mitarbeiter, die sich in den insgesamt 25 Außenstellen um Einzelschicksale kümmern. Für den Verein ergibt sich seine Notwenigkeit aus einer einfachen Fragestellung heraus: Wenn alle damit beschäftigt sind, den Täter zu jagen, wer kümmert sich dann um das Opfer?

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