Wenn das Kind im Brunnen liegt

MAINZ. Der demographische Wandel gilt neben der Globalisierung als eine der großen Herausforderungen, die die Gesellschaft erfasst. Bleibt die Geburtenrate so wie sie ist, wird es in 100 Jahren nur noch 1,4 statt vier Millionen Rheinland-Pfälzer geben.

Zahlen rütteln wach, doch sie sind nur Teil der Aufgabenstellung, nicht die Lösung, sagen die Experten. Hauptursache des Bevölkerungsschwundes: Von Mitte der 60er bis Mitte der 70er-Jahre gab es einen dramatischen Absturz der Geburtenrate. Seitdem schwankt die Zahl um rund 1,4 Geburten pro Frau im Alter von 15 bis 45. Um die Bevölkerungszahl zu halten, ist eine Rate von 2,1 bis 2,2 notwendig. Steigende Lebenserwartung und Zuzug haben in Rheinland-Pfalz dennoch die Einwohnerzahl in den vergangenen 30 Jahren von 3,5 auf 4,05 Millionen steigen lassen und damit auch den Blick auf die künftige Entwicklung verstellt. Deutschland ist de facto bereits ein Zuwanderungsland, sagt Regionalwissenschaftler Professor Harald Spehl von der Uni Trier. Doch die sich abzeichnenden Verwerfungen in der Altersstruktur können nach seiner Meinung nicht allein über Zuwanderung ausgeglichen werden. Die dazu jährlich notwendigen 1,5 Millionen Menschen können nicht integriert werden, zumal sie langfristig von außerhalb der EU einwandern müssten, da alle europäischen Staaten mehr oder minder unter Auszehrung leiden. Zechpreller zu Lasten der nächsten Generation

Für den Freiburger Finanzwissenschaftler Bernd Raffelhüschen sind die 30- bis 50-Jährigen Zechpreller, die die Wohltaten des Staates in Anspruch nehmen oder noch nehmen wollen, ohne allerdings Kinder zu zeugen. Sie haben ihre Bringschuld nicht beglichen, wie Raffelhüschen sagt. Auszugleichen sind diese Defizite auch mittelfristig nicht mehr. Nicht nur die Sozialsysteme geraten durcheinander. Die Kommunen müssen ihre Planungen vom Kindergarten bis zum Altenheim umstellen, in den Betrieben wird die Belegschaft von durchschnittlich 41 auf 46 bis 48 Jahre altern, so Heinz Kolz, Geschäftsführer der Zukunftsinitiative Rheinland-Pfalz. Bei Investitionen müssen Nutzungskonzepte langfristig tragen, Bauten für flexible Verwendung geplant werden und Dienstleistungen, Verwaltung und Schulen auf den Prüfstand. Wollen wegen mangelnder Infrastruktur schrumpfende Dörfer nicht lautlos sterben, wird Bürgerengagement zu einem zentralen Anliegen. Absehbar ist zudem eine Sogwirkung in die Ballungsräume, die Arbeit, Lebenskomfort und Versorgung im Umfeld bieten. Eifel, Hunsrück und Westpfalz könnten von dieser Wanderungsbewegung besonders getroffen werden. Kommunen müssen Überlebenskonzepte erarbeiten. Städteplaner sind gefordert, Ghettos für Alte zu verhindern. Triers Stadtentwickler Johannes Weinand stellt eigene Modellrechnungen an, um der besonderen Situation einer schrumpfenden Moselmetropole neben einem wachsenden Luxemburg gerecht zu werden. "Wenn wir nichts tun, verlieren wir bis 2040 im schlechtesten Fall mehr als 20 000 Einwohner", sagt Weinand. Doch Trier hat sich das "zwar ehrgeizige, aber durchaus machbare Ziel" gesetzt, zumindest noch bis 2020 die 100 000 zu halten. In die Stadt werden nach seiner Überzeugung nicht nur ältere Menschen aus dem Umland zuziehen. Ein multikulturelles Luxemburg, das in den nächsten Jahrzehnten mit einer Zuwanderung von hunderttausend und mehr Menschen rechnet, wird auf Trier abfärben. Arbeitsort Luxemburg, Wohnort Trier: Das ist für Weinand eine beachtliche Größe, mit der Demographie regional gestaltet werden kann. In jedem Wandel stecken auch Chancen, sagt Wirtschaftsminister Hans-Artur Bauckhage (FDP) - sofern er frühzeitig gesteuert wird. Doch gerade daran hapert es laut Volkswirtschaftler Spehl. Die Politik agiere zu zögerlich, weil sie in Wahlperioden denke, kritisiert er. Doch bei reinem Abwarten werden die Deutschen nach seiner Überzeugung nicht nur irgendwann zur Minderheit im eigenen Land. Erst recht wird die Überalterung teuer.

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