"Wir brauchen keinen Einheitsbrei, sondern maßgeschneiderte Förderung"

Trier · Prominenter Besuch in Trier: Am Donnerstag eröffnet die Berliner Professorin Jutta Allmendinger, eine der führenden Bildungsexpertinnen Deutschlands, in der ADD eine regionale Vortragsreihe zur Zukunft der Schulen.

Trier. TV-Redakteur Dieter Lintz hat die Soziologin im Vorfeld der Veranstaltung über ihre Vorstellungen zur Bildungspolitik befragt.

Das Thema Ihrer Veranstaltung in Trier lautet: "Wie wir unser Bildungssystem verändern müssen, um unseren Kindern gerecht zu werden". Das ist eine Frage, an der seit Jahrzehnten alle herumdoktern - weitgehend ergebnislos. Woher nehmen Sie den Optimismus, eine Antwort liefern zu können?
Allmendinger: Weil meine Handlungsempfehlungen auf solider Forschung beruhen. Wir reden über harte Fakten. Die Wissenschaft ist sich dabei auch vollkommen einig. Dank sehr guter und international vergleichbarer Daten ist die Zeit vermeintlich ideologischer Forderungen in der Bildungsforschung vorbei.

Wenn Sie morgen das bildungspolitische Sagen hätten: Was wären die erste drei Punkte, die Sie ändern?
Allmendinger: An erster Stelle steht die Verbesserung der Lehrerausbildung - für alle Altersstufen. Dies ist die Voraussetzung für gute Kindertagesstätten, Ganztagsschulen und gemeinsames Lernen. Zweitens müssen Schulen finanziell besser ausgestattet werden, insbesondere in sozialen Brennpunkten. Dort wird individualisierter Unterricht gebraucht, unterstützt auch von Sozialpädagogen, Psychologen und Mentoren, vernetzt mit Eltern und Jugendämtern. Wenn diese Voraussetzungen geschaffen sind, kommt drittens die Reform der Schulstruktur.

Eine Ihrer Kernthesen lautet, die Kinder würden zu früh in unterschiedliche Schulformen separiert. Was passiert nach Ihrer Erfahrung durch diese frühe Trennung?
Allmendinger: Wir entziehen ihnen jede Möglichkeit, voneinander und miteinander zu lernen. Wir separieren die unterschiedlichen sozialen Kreise und wundern uns dann, dass sie immer weiter auseinanderdriften und die Ungleichheit in Deutschland zunimmt. Jeder bleibt bei seinen Leisten. Die Folge ist, dass wir auch bei den Spitzenkompetenzen international zurückliegen.

Wann wäre nach Ihrer Meinung der richtige Zeitpunkt, den gemeinsamen Unterricht auslaufen zu lassen und die Schüler in unterschiedliche Bildungs- oder Ausbildungslaufbahnen zu entlassen?
Allmendinger: Ich würde mich da am Ausland orientieren, Deutschland ist ja eine große Ausnahme. Andere Länder schulen die Kinder bis zum Alter von 16 Jahren zusammen. Danach wählen die Jugendlichen eine berufliche Ausbildung oder hängen noch zwei bis drei weitere Schuljahre an. Aber Achtung: Längeres gemeinsames Lernen setzt eine Pädagogik der Vielfalt voraus. Wir brauchen ja keinen Einheitsbrei, sondern eine auf die individuellen Fähigkeiten des Kindes ausgerichtete, maßgeschneiderte Förderung, von der letztlich alle profitieren.

Ein zentrales Argument für das gegliederte Schulsystem ist, dass durch gemeinsamen Unterricht die starken Schüler unterfordert werden. Sehen Sie das Problem auch?
Allmendinger: Auch hier vertraue ich der Forschung und den Erfahrungen in anderen Ländern, die im internationalen Vergleich besser als wir abschneiden. Und da zeigt sich: Leistungsstarke Kinder verlieren nicht, aber leistungsschwache gewinnen durch den gemeinsamen Unterricht sehr viel.

Wenn man in dem Alter ist, wo die eigenen Kinder Abitur machen, hat man das Gefühl, in der Schule - die Grundschule ausgenommen - hätte sich in den letzten 30 Jahren wenig verändert. Die ganze Welt wandelt sich, aber die Schule scheint ein veränderungsresistentes Biotop zu sein. Gleichzeitig schimpfen aber alle auf die Schule. Haben Sie für diese schizophrene Kombination eine Erklärung?
Allmendinger: Die Curricula wurden wenig an die neuen Herausforderungen angepasst, obgleich wir heute in einer global vernetzten Welt mit ganz anderen Anforderungen auch des Arbeitsmarkts leben. Die Schulung sozialer Kompetenzen, das Erlernen von Demokratie, die Übernahme sozialer Verantwortung - all das lehren unsere Schulen nicht. Dennoch verstehe ich das Beharrungsvermögen. Es fehlt an Vertrauen. Es gab zu viele Reformen, ohne erst die Voraussetzungen für das Neue zu schaffen, wie etwa G8 und die früheren Gemeinschaftsschulen. Durch handwerklich schlecht vorbereitete Reformen ist der Vertrauensverlust riesig.

Spätestens nach dem Hamburger Bürgerentscheid hat man den Eindruck, dass viele Eltern in Sachen Schulreform noch konservativer sind als die Bildungspolitiker. Es scheint, dass eine gesellschaftliche Mehrheit für grundsätzliche Veränderungen in weiter Ferne liegt. Frustriert Sie das?
Allmendinger: Wir alle haben uns viel zu wenig Mühe gegeben, sie zu überzeugen. Die Eltern haben Angst um die Bildung ihrer Kinder und wissen oft nicht, wie die Schule funktioniert. Nur Transparenz kann hier helfen. Und gute Beispiele, wie und warum es anderswo gelingt, etwa in den Schulen, die mit dem Deutschen Schulpreis der Robert Bosch Stiftung ausgezeichnet wurden.

Welche Rolle spielt aus Ihrer Sicht die Länderhoheit, also der Bildungs-Föderalismus? Er wird ja oft begründet mit einer Art erwünschter Konkurrenz, wie etwa bei Wirtschaftsförderung, Tourismus oder Kultur.
Allmendinger: Der stark ausgeprägte Föderalismus ist schon ein Problem. Aber das heißt noch lange nicht, dass wir einen Zentralismus im Bildungswesen brauchen. Die einzelne Schule muss sich entfalten können. Wir brauchen mehr Autonomie, damit sie sich auf die jeweiligen Herausforderungen und Bedingungen einstellen kann. Auch das aber muss vorbereitet werden, etwa durch eine entsprechende Ausbildung der Schulleiter. Wir brauchen bundesweite Standards, was Kinder in den unterschiedlichen Klassenstufen erreichen sollen. Im Moment stehen diese nur auf dem Papier.

Glauben Sie, dass die aktuelle Diskussion zum Thema Inklusion und die Konsequenzen der Uno-Konvention Veränderungen auch in der Schule erzwingen?
Allmendinger: Es erscheint mir sehr schwierig und fast unmöglich, eine Inklusion von körperlich oder geistig eingeschränkten Kindern zu erreichen, ohne gleichermaßen sozial inklusiv zu sein. Denn auch hier brauchen wir zunächst die angemessene Pädagogik und Schulung der Lehrerschaft und des unterstützenden Umfelds. Eine einseitig, nur auf Behinderte ausgerichtete Inklusion würde leicht zu noch stärkerer Stigmatisierung führen.Extra

Veranstaltungsreiheforum neue bildung: Der Vortrag von Professorin Allmendinger am Donnerstag, 24. Januar, um 17.30 Uhr im Rokokosaal des Kurfürstlichen Palais bildet den Auftakt zu einer Reihe von acht Veranstaltungen in der Region Trier. Organisator ist das forum neue bildung, ein von den Landtags-Grünen initiierter Zusammenschluss, zu dem unter anderem die Landesschülervertretung, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und die Initiative "Eine Schule für alle" gehören. Die Termine: 18. Februar, Schulzentrum Speicher: "Vielfalt nutzen: erfolgreich gemeinsam lernen", mit Prof. Jutta Standop, Uni Trier. 5. März, Balduin-Realschule, Wittlich: "Jugend und Demokratie - wie der Lernort Schule sie fördern kann". 11. April, Lokschuppen Gerolstein: "Schule in der Demokratie - gerecht und intensiv", Winfried Eschmann und Frieder Bechberger-Derscheidt. 25. April, Bürgerzentrum Schweich: "Schulbau inklusiv", mit dem Landesbehindertenbeauftragten Matthias Rösch und der Trierer Schuldezernentin Angelika Birk. 14. Mai, Studierendenhaus Uni Trier: "Bildung braucht Freiräume", mit Landesjugendring, Landesschülervertretung, Asta, BDKJ. 29. Mai, Tufa Trier: "Praxisreport Bildungsgerechtigkeit", mit Professorin Susanne Thurn, Leiterin Laborschule Bielefeld. 3. Juni, Observatorium Hoher List, Schalkenmehren: "Kulturelle Bildung für alle", mit Prof. Hansgünther Heyme und Prof. Wilhelm Seggewiss. DiLExtra

Jutta Allmendinger (56) ist Präsidentin des renommierten Wissenschaftszentrums für Sozialforschung in Berlin. Die Soziologin gehört etlichen bedeutenden wissenschaftlichen Zirkeln an und berät sowohl Angela Merkels Bundesregierung als auch den Berliner Senat von Klaus Wowereit in Bildungs- und Sozialfragen. Ihr aktuelles Buch heißt "Schulaufgaben - wie wir das Bildungssystem verändern müssen, um unseren Kindern gerecht zu werden". DiL

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