"Alte Menschen sind bei uns Heilige"

FELL. 82 Jugendliche aus Kolumbien nehmen von Mitte November bis Anfang Februar an einem bundesweiten Schüleraustausch teil. Auch Tatjana Oviedo (16). Sie lebt in der Gastfamilie Kirsten in Fell.

Ob Kinder, die mit Schneekugeln werfen oder die "alten Ruinen" in Trier, manches hat Tatjana Oviedo aus Kolumbien bisher zum Staunen gebracht. "Worüber werde ich im Auto mit meiner Gastfamilie sprechen?", fragte sie sich ständig während des zwölfstündigen Fluges von Kolumbien nach Deutschland. "Über die Landschaft? Über den Flug?""Wie eine zweite Tochter"

Mit an Bord waren weitere 81 aufgeregte Jugendliche im Alter zwischen 14 und 16 Jahren - ohne erwachsene Begleitpersonen. Die Deutsche Schule in Barranquilla, der drittgrößten kolumbianischen Stadt mit einer Million Einwohnern, hat den Austausch organisiert. Nelli Centner, eine in Trier lebende Kolumbianerin und Mitorganisatorin, fragte auch bei der ihr bekannten Familie Kirsten in Fell nach, ob sie bereit sei, eine kolumbianische Schülerin aufzunehmen. Die einzigen Bedenken, die Carmen Kirsten hatte, waren, dass drei Monate eine lange Zeit sind und: "Was ist, wenn wir uns nicht verstehen?" Doch Tatjana, die sehr gut Deutsch spricht, hat sich schnell eingewöhnt, und Ottmar Kirsten sagt heute: "Sie ist wie eine zweite Tochter." Morgens fährt Tatjana mit Nina (15) zur Blandine-Merten-Realschule nach Trier. "Der Unterricht ist sehr streng", hat sie beobachtet. Das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern sei in ihrer Schule offener und vertrauensvoller und es gäbe mehr Freiheiten. "Es wird viel diskutiert. Jeder Schüler sagt seine Meinung zu bestimmten Themen. Dadurch lernen wir, Sachen zu hinterfragen", meint die Kolumbianerin, die nach dem Abitur Medizin studieren will. Der Unterricht in ihrer Heimat beginnt um 7 Uhr. Es gehen nur die Kinder zur Schule, deren Familien sich einen Schulbesuch leisten können. "Viele Kinder arbeiten in Kolumbien", erzählt die 16-Jährige. Kindheit in Kolumbien unterscheide sich häufig von der Kindheit in Deutschland, aber auch im Umgang mit alten Menschen stellt Tatjana Differenzen fest: "Alte Menschen sind bei uns wie Heilige", sagt die Gastschülerin. "Hier haben die jungen Menschen nicht so viel Respekt vor den alten Leuten." In Kolumbien sei es alltäglich, dass man Senioren über die Straße helfe oder aufstehe, wenn sie in den Bus kommen. Bevor Tatjana ihre Reise antrat, hat sie viel über Trier gelesen und viel von der Frau des Schuldirektors, die aus Trier stammt, über die älteste Stadt Deutschlands gehört. "Trier ist sehr schön, vor allem die alten Ruinen sind toll.""Jede Menge Freunde gewonnen"

Erzählungen, dass die Deutschen sehr schüchtern sind, haben sich allerdings nicht bestätigt. Ob in der Klasse, in der Freizeit oder in der Familie: "Ich bin überall sehr herzlich aufgenommen worden und habe jede Menge Freunde gewonnen." Nie vergessen wird sie den Moment, als sie durch Trier bummelte und plötzlich die ersten Schneeflocken, die sie je gesehen hat, vom Himmel tanzten. In drei Wochen fliegt Tatjana nach Barranquilla zurück. "Ich werde sie vermissen", sagt Nina Kirsten. Viel habe ich von Tatjana gelernt. Vor allem hilfsbereiter zu sein", sagt Nina. Auch das Familienmitglied auf Zeit hat sich einiges angeeignet. Ihre Sprachkenntnisse haben sich deutlich verbessert. So sehr, dass sich hin und wieder das eine oder andere Wort in Trierer Dialekt einschleicht. "Ich werde noch oft an Deutschland denken", sagt Tatjana - und ein Abschiedsschmerz klingt mit.

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