Auf der Vespa zum Wunder

ZÜSCH. Eines der denkwürdigsten Ereignisse der neueren deutschen Geschichte hat Robert Schmitt aus nächster Nähe erlebt. Nach einer abenteuerlichen Fahrt auf der Vespa in die Schweiz war der Züscher Augenzeuge des "Wunders von Bern".

"Und Bozsik, immer wieder Bozsik, der rechte Läufer der Ungarn am Ball. Er hat den Ball - verloren diesmal gegen Schäfer. Schäfer nach innen geflankt. Kopfball - abgewehrt. Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen - Rahn schießt - Tooooor! Tooooor! Tor für Deutschland" - Am 4. Juli 1954 lauschte eine ganze Nation der Radioreportage von Herbert Zimmermann oder sie drängte sich vor eines der wenigen Fernsehgeräte, die es damals gab. Anders Robert Schmitt: Der damals 30-jährige Züscher, der in seinem Heimatort das Tor des Fußballclubs hütete und sich in seiner aktiven Zeit den Spitznamen "Katze vom Hochwald" erwarb, stand just in diesen Minuten zwar im strömenden Regen, aber dennoch auf einem privilegierten Platz: Zusammen mit seinem saarländischen Arbeitskollegen Helmut Becker verfolgte er im Berner Wankdorfstadion den sensationellen 3:2-Sieg der Herberger-Elf über Ungarn. Und das kam so: Zwei Tage vor dem WM-Finale kam Becker während der Arbeit in der Autowerkstatt der Saarbergwerke auf Schmitt zu und fragte ihn kurzentschlossen: "Hör mal, Robert, hast du keine Lust, mit nach Bern zu fahren?" Das Angebot kam zwar überraschend, doch Schmitt war nun mal ein "Fußball-Fanatiker", der schon zuvor häufig weit gefahren war, um sich hochklassige Spiele anzuschauen. Schlag Mitternacht, Tankstelle Otzenhausen

Nach kurzer Bedenkzeit sagte der Züscher also zu und auch der Treffpunkt war schnell verabredet. Schlag Mitternacht sollte am 4. Juli an der Tankstelle in Otzenhausen das Abenteuer beginnen. Also packte Schmitt am Abend zuvor in Züsch eine kleine Tasche, nahm Abschied von Frau und zehn Monate alter Tochter und stiefelte zu Fuß über die Grenze in den damals noch französisch besetzten Nachbarort im Saarland. Nachdem er einige Zeit hatte warten müssen, hörte er endlich das Geknatter von Beckers Vespa, auf die er sich als Sozius schwang. "Mit der Taschenlampe in der Hand habe ich dann auf die Karte geschaut und uns über Saarbrücken und später durch die Vogesen über die Landstraßen navigiert", berichtet Schmitt. An der Schweizer Grenze war jedoch Gewitztheit gefragt. Denn Schmitt hatte keinen Pass bei sich. "Gott sei dank war viel Betrieb", erinnert er sich. Und so konnte er als Fußgänger an den strengen Schweizer Zöllnern vorbei über die Grenze huschen und sich von Becker später wieder auflesen lassen. Obwohl bei der Fahrt durch die Schweiz schon bald starker Regen einsetzte, schafften es die beiden Fußball-Fans tatsächlich, nachmittags noch rechtzeitig in Bern anzukommen. Und sie hatten Glück: Für jeweils fünf Schweizer Franken ergatterten sie auf dem Schwarzmarkt noch zwei Stehplatzkarten und standen eine Viertelstunde vor dem Anpfiff auf den unüberdachten Rängen der Arena. "Jesses, wie geht das heute aus, haben wir gedacht, als wir schon nach ein paar Minuten 0:2 zurückgelegen haben", erinnert sich Schmitt an das Wechselbad der Gefühle. Aber bekanntlich drehten die Mannen um Fritz Walter den Spieß noch um und zwangen den haushohen Favoriten in die Knie. "Als wir es tatsächlich geschafft hatten und Weltmeister geworden sind, haben wir uns natürlich aufgebläht wie die Truthähne", erzählt Schmitt lachend. Zur Mannschaft konnten die beiden nach dem großartigen Sieg aber nicht mehr vordringen. "Da war einfach zu viel Trubel", erzählt Schmitt, der 25 Jahre im Züscher Gemeinderat saß und sich immer noch als Knappschaftsältester um die Rentenanträge seiner früheren Berufskollegen kümmert. Deshalb seien sie auch sofort wieder aufs "Pferdchen" gestiegen und hätten sich auf den Heimweg gemacht. Bei einer kurzen Rast in der Nähe von Basel mussten sie den großen Anstrengungen aber Tribut zollen. "Da sind wir in einer Gaststätte vor Müdigkeit am Tisch eingeschlafen." Unterschlupf fanden sie in dieser Nacht im Kuhstall eines Bauernhofs, bevor es anderntags endgültig zurück in die Heimat ging. "Ich habe auch viel Schlimmes mitgemacht, beispielsweise drei Jahre Kriegsgefangenschaft. Aber in Bern dabei gewesen zu sein, war sicher eines der schönsten Ereignisse meines Lebens." So lautet das Fazit des heute 81-Jährigen, wenn er an die historischen Geschehnisse und ein außergewöhnliches persönliches Abenteuer vor mehr als einem halben Jahrhundert zurückdenkt.

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