Esspapier, ein Opel und die ersten Rollschuhe

BITBURG/TRIER. Nach der erfolgreichen Serie, in der Zeitzeugen aus der Region Trier von den letzten Kriegsmonaten berichteten, hat der Trierische Volksfreund eine Neuauflage gestartet. Im Mittelpunkt stehen die Wirtschaftswunder-Jahre. Heute ein Bericht von Heidi Studentkowski.

Das Wirtschaftswunder begann für mich, Jahrgang 1941, bereits mit dem Ende des Krieges. Wir lebten in einem hessischen Dorf, wohin wir evakuiert worden waren. Eines Tages kam ein Jeep über den Feldweg gefahren. Wir Kinder liefen zusammen und bestaunten die ersten Farbigen unseres Lebens. Als diese dann auch noch Kaugummi und Schokolade verteilten, waren wir glücklich und genossen diese unbekannten Köstlichkeiten. Nach Trier zurückgekehrt, fallen mir die mit Bretter vernagelten großen Altbaufenster unserer provisorischen Wohnung ein, in deren Mitte man nur ein winziges verglastes Fensterchen hatte, um hinaus zu sehen. Die großen neuen Fensterscheiben kamen dann im zweiten oder dritten Nachkriegsjahr. Eines Tages gab es in einer Drogerie das nächste kleine Wunder zu kaufen: Esspapier! Alle Kinder rannten hin, um für ein paar Pfennige etwas zu kaufen, was aussah wie Löschblatt und auch so schmeckte. Nach der Währungsreform bot der Lebenmittelladen gegenüber wieder Schokolade an; besonders angepriesen wurde LoMaMiNu (Lohmann-Mandel-Milch-Nuss), bis heute meine Lieblingssorte. Wir Kinder kannten das Ausmaß des Mangels ja nicht, weil wir keine Erinnerung an Vorkriegszeiten hatten. Also wurde alles bestaunt, womit sich die Läden füllten. Meine Mutter brachte eines Tages die ersten Rollschuhe für mich mit. Sie wäre am liebsten noch selbst damit gefahren. Da die Straßen ziemlich kaputt waren, mussten wir nach geeigneten Flächen suchen. Am besten fuhr es sich in der Balduinstraße auf einem herrlich glatten Teerbelag. Man stelle sich das bei dem heutigen Verkehr dort vor! Auch im Haushalt gab es nach und nach Verbesserungen, aber als Kind war das für mich nicht wichtig. Aufregender war es, als mein Vater Werner Minarski, der in der Eifel Munition räumte und Bomben entschärfte, eines Tages Anfang der 50er-Jahre mit dem ersten eigenen Auto vorfuhr. Ein gebrauchter Opel Olympia. Mit diesem Gefährt konnte man nun auch die ersten weiteren Fahrten zur Verwandtschaft ins Ruhrgebiet oder an die Mosel machen, wo das gute Stück bewundert wurde. Das größte Ereignis war aber die neue Wohnung. Der Wohnungsmangel war ja immens; Neubauten entstanden zwar überall, aber bevor man sich versah, waren die Wohnungen schon wieder alle vergeben. Nach unbeschreiblich beengten Verhältnissen in einem Gründerzeithaus in der Bergstraße zogen wir in einen neuen Wohnblock in der Kloschinskystraße. O Gipfel des Luxus! Drei Zimmer, Küche, Bad für sieben Personen! Im Elternzimmer wurde der Jüngste einquartiert, die beiden größeren Söhne teilten sich ein Zimmer mit dem Großvater, und die Älteste, also ich, schlief auf dem Klappsofa im Wohnzimmer. Wenn die Familie frühstücken wollte, musste zuerst das Bett weggeräumt sein, um Platz für den Tisch zu haben. Die Küche war so klein, dass man dort nicht essen konnte. Außerdem musste die ganze Morgentoilette der Familie dort stattfinden, weil im Bad kein Waschbecken vorgesehen war. Unvorstellbar heute! Ein Holzbadeofen mit freistehender Wanne, eine Toilette, das wars im Bad. Geheizt wurde immerhin schon mit einem Ölofen, aber nur im Wohnzimmer. Trotzdem bedeutete diese Wohnung für meine Familie in der Mitte der 50er-Jahre Fortschritt und Wirtschaftswunder pur. Alles aufzuzählen, was besser wurde, fällt schwer - eigentlich alles, schließlich war ja auch alles kaputt gewesen. Eine einzige Aufbruchstimmung: Radio und Schlager, Zeitungen, Weltmeisterschaft, Taschenbücher, Anne Frank, Theater und Kino, Reisen, Ferienaufenthalte, Klassenfahrten und Schule, Tanzkränzchen, Mode, Keilhosen und Jeans, Fernsehen, Tarzanhefte und die "Bravo" - alles war neu und wurde begierig aufgenommen. Die Welt stand uns offen, wir mussten sie nur kaufen! Heidi Studentkowski (64), Grundschullehrerin und Rektorin a.D. aus Bitburg.

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