Weltbürgerin im Tante-Emma-Laden

ZEMMER. Wo vermutet man eine junge Frau, die fließend vier Sprachen spricht, Freunde auf der ganzen Welt hat und immer gut aufgelegt ist? In einer Werbeagentur, auf internationalem Parkett – vielleicht. Finden kann man sie mitten in Zemmer, in einem Lebensmittelgeschäft.

Katja Reichertz ist 37 Jahre jung und feiert zur Zeit ein beachtliches Jubiläum: Seit 20 Jahren führt sie gemeinsam mit ihren Eltern den "Zemmerer Großmarkt", ein Geschäft, wie es in den meisten Dörfern schon lange nicht mehr zu finden ist. "Es ist ein großer Tante-Emma-Laden", sagt Katja über den Supermarkt, der neben einer Metzgereiabteilung auch die Postagentur und eine Lotto-Annahmestelle beherbergt. Sie wählt diesen Begriff mit Bedacht, denn nach 20 Jahren weiß sie, welch wichtige Funktion ein Laden im Dorf haben kann. "Vielen Kunden geht es nicht hauptsächlich ums Einkaufen, sie wollen einfach reden." Zu "Katja", wie sie von allen im Dorf genannt wird, kommen die Leute gerne. Immer erwartet sie ein strahlendes Lächeln, ein freundliches Wort, ein guter Rat oder eine interessante Idee. "Die Menschen hier machen es einem leicht, freundlich zu sein", meint sie. "Zu den meisten habe ich ein persönliches Verhältnis, viele von ihnen habe ich groß werden sehen. Sie sind alle nett und super herzlich." Egal, ob die Kunden aus dem Ort, den Nachbardörfern oder vom Schönfelderhof kommen, Katja trifft immer den richtigen Ton und hilft, wo sie kann: Langschläfern reserviert sie Brötchen für's Samstagsfrühstück, garantiert treibt sie irgendwo den unmöglich langen Schnürsenkel in schreiendem Lila oder die längst aus der Mode gekommene Haarnadel auf. Dafür kann sie, wie damals, als der Strom ausfiel und ein Nachbar die elektronische Eingangstür richtete, selbst jederzeit auf Unterstützung zählen. "Ich könnte mir nicht vorstellen, irgendwo anonym zu arbeiten", sagt die gelernte Drogistin, deren Arbeitswoche "locker 70 Stunden" umfasst. Ihre knappe Freizeit widmet sie Freunden und dem Sport, hauptsächlich Tennis: "Da tanke ich dann auf." Wie jeder junge Mensch hat auch sie gelegentlich darüber nachgedacht, wie es anderswo sein könnte, aber: "Irgendwann wächst man in die Verantwortung rein, da ist es nicht mehr so leicht, zu gehen." Katja sitzt am Dreh- und Angelpunkt eines Mikrokosmos, in dem alle Höhen, Tiefen und menschlichen Eigenheiten vereint sind. Und doch zieht es sie gelegentlich hinaus, am liebsten nach Spanien, wo südländische Lebensart ihr fröhliches Temperament beflügelt. Nicht nur dort pflegt sie teils langjährige internationale Kontakte zu Freunden, mit denen sie sich fließend auf Italienisch, Spanisch, Französisch und Englisch unterhält. Jüngst verirrte sich ein englischer Reisebus mit Studenten auf Exkursion nach Zemmer. Die Insassen wollten bei Katja Proviant kaufen und wunderten sich, eine "Engländerin" im Laden zu finden, die mit ihnen gewandt über allerlei Themen diskutierte. Als sie abreisten, blieb die Erkenntnis, eine Weltbürgerin getroffen zu haben.

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