Wunder der Geburt im Stollen

FELL. 1945 erblickte ein Mädchen aus Nittel das Licht der Welt im Barbarastollen in Fell. Gerta Gorges war damals mit dabei und erlebte das Wunder der Geburt und der Menschlichkeit hautnah mit.

Ein Schrei. Ein Mädchen ist geboren. Geburtsort: der Barbarastollen in Fell. Geburtsjahr: 1945. 15 000 Menschen besuchen jährlich das Besucherbergwerk in Fell. Wenn Greta Gorges dorthin zurückkehrt wo einst die Bergleute hart schufteten, dann ist sie wieder da - die Erinnerung an damals, an die Geburt des Mädchens, an die Kriegswirren und Schicksalsschläge. Zu jener Zeit, als der Krieg tobte, suchten einige Feller Familien Zuflucht in den Stollen. Der Schiefer schützte die Menschen vor Granaten, Bomben und Schüssen. Auch Greta Gorges machte sich einst mit ihrer Familie auf den Weg in Richtung Gruben. Die junge Mutter quartierte sich mit ihrem zehn Monate alten Sohn Hans-Werner, ihren Geschwistern und Eltern für drei Wochen im Barbarastollen ein. "Wir haben ein Schwein geschlachtet und das Fleisch mitgenommen, ein Eisenbett, Kerzen und Windeln hochgeschleppt", erinnert sich die 83-Jährige. "Einer, der Hühner hatte, brachte uns Eier." Jeder habe mitgebracht, was er hatte. "Im Stollen wurde geteilt." Nachts standen die Väter vor dem Eingang des schiefernen Zufluchtsorts und hielten Wache. Greta Gorges hat die Bilder noch alle im Kopf, sehr einschneidend waren die Erlebnisse jener Tage. Niemals vergessen wird sie, als eine Mutter mit ihrer hochschwangeren Tochter um Einlass in das Bergwerk bat. "Wie sie dorthin gekommen sind, weiß ich nicht mehr. Nur noch, dass beide aus Nittel kamen und weder Windeln noch sonst etwas dabei hatten." Kurz nach der Ankunft am sicheren Ort setzten die Wehen ein. "Wir stellten unser Eisenbett zur Verfügung." Greta Gorges' Mutter und ihre Cousine ("Sie waren sehr couragiert") leisteten Geburtshilfe. "Ich kann mich noch daran erinnern, dass sie Wasser kochten und trotz der bevorstehenden Geburt sehr ruhig blieben." Nach zwei Stunden war ein kleines Mädchen geboren. Der erste Schrei verhallte zwischen Schieferwänden. "Ihren Namen weiß ich nicht mehr, wir waren damals alle zu sehr mit uns selbst beschäftigt." Ein Geistlicher unter den Soldaten habe das Kind getauft, und es sei ein Glück gewesen, dass die Mutter ihr Neugeborenes stillen konnte. Nach fünf Tagen seien Großmutter, Mutter und Kind wieder aufgebrochen. "Was aus ihnen geworden ist, weiß ich nicht." Ein paar Tage später spielte sich wenige hundert Meter weiter wieder ein Kriegsschicksal ab. Eine Granate traf den Vater von Greta Gorges. "Er war losgegangen, um zu Hause Milch für meinen Sohn zu holen." Er kehrte nicht wieder zurück. "Erst sechs Wochen später haben wir erfahren, dass er umgekommen ist." Trotz dieser Tragik blickt die Seniorin wohlwollend auf die Tage im Stollen zurück. "Es war eine schlimme Zeit, aber viele von uns haben überlebt. Dank des Stollens."

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