Das Herz an Chopin verloren

KERNSCHEID. Im Dezember wird Johanna Spieker 84 Jahre alt. Die lebenslustige Frau ist nach den 40 Jahren, die sie in Kernscheid wohnt, aus dem Stadtteil nicht mehr wegzudenken.

"Ich bin überall die Älteste." Wenn Johanna Spiecker das sagt, klingt das nicht bedauernd, sondern ein wenig belustigt, und ihre blauen Augen blitzen dabei. Dass sie sich etwas traut, davon scheint selbst schon ihr Pullover in knalligem Türkis Bände zu sprechen. "Körperlich kann ich gut mithalten", beschreibt sie bescheiden ihre Kondition, die sie als die Älteste in der Gymnastik-Gruppe der SSG Kernscheid an den Tag legt. "Mir tut nichts weh", berichtet die vitale Frau weiter, die nächsten Monat ihren 84. Geburtstag feiert.Über 70 Jahre sportlich tätig

Aufgewachsen ist Johanna Spiecker in Forst in der Lausitz, direkt an der heutigen Grenze zu Polen. Seit ihrem zehnten Lebensjahr betreibt sie ernsthaft Sport. Im 75-Meter-Lauf, Weitsprung, Ballweitwurf sowie am Barren, am Pferd, an den Ringen und auf dem Schwebebalken war sie als 16-Jährige beim Deutschen Turnfest in Berlin sogar so gut, dass sie immerhin den 31. Platz belegte. Heute begnügt sich Johanna Spiecker nicht allein mit dem Turnen. "Yoga und Eutonie" heißt ein Kursus, an dem sie sich einmal die Woche in der Irscher Sporthalle beteiligt. Den Kopfstand üben die zehn Frauen zwar nicht, versuchen dennoch, mit einer gemäßigten Form des Yoga die geistige und körperliche Wahrnehmung zu verfeinern. "Das Leben ist schön" ist eine von Johanna Spieckers täglichen Lieblingssätzen. Dabei war nicht immer alles einfach in ihrem Leben. Die gelernte Kontoristin heiratete 1944 Hals über Kopf einen verwundeten Offizier. Keine Wohnung, keine Möbel, der Mann ohne Beruf: So kamen die beiden Flüchtlinge mit zwei kleinen Kindern 1945 bei der Schwester ihres Ehemannes in Trier an. Schwere und beengte Jahre folgten; doch der Mann baute sich eine Existenz auf - und schließlich war 1961 ein eigenes Haus in Kernscheid möglich. "Von da an ging es bergauf", erinnert sich Johanna Spiecker. Über den neuen Aufgaben als treue Ehefrau und sorgende Mutter von vier Kindern kamen ihr so manche Interessen "abhanden", wie sie ausdrückt. Doch sie grämt sich nicht über die vergangene Zeit, sondern blickt nach vorne. Besonders seit ihr Mann nicht mehr lebt, übernimmt sie selbst die Verantwortung dafür, dass ihr Leben reizvoll bleibt. Sei es an Karneval oder beim Sommerfest: In Kernscheid kennt jeder Johanna Spiecker als flotte Tänzerin und spaßige Unterhalterin. Denn zum Älterwerden hat die Frau mit den dunkelgrauen, glatten kurzen Haaren eine nachahmenswerte Einstellung. "Alt macht nicht das Grau der Haare, alt macht nicht die Zahl der Jahre, alt ist, wer den Humor verliert und sich für nichts mehr interessiert", ist einer der Sinnsprüche, die sie durch den Tag begleiten. An Kernscheid schätzt Johanna Spiecker neben der guten Luft und ihrem großen Garten, den sie noch selbst mit dem Spaten beackert und mit Gemüse bepflanzt, die schönen Spazierwege. Von ihren täglichen Streifzügen bringt sie Blätter, kleine Steine und Kiesel mit, die sie zu Hause zu neuem Leben erweckt und zu frech dreinblickenden Tierfiguren zusammenfügt. Ihr Herz hat Johanna Spiecker heute an Frédéric Chopin verloren. Die Fingertechnik für die anspruchsvollen Klavier-Stücke des polnischen Komponisten bringt sie mit. Denn im Klavierspiel war sie als junge Frau so talentiert, dass sie auf das Konservatorium in Dresden gehen sollte. Doch dann kam der Krieg, und alles wurde anders. Heute hat sie ihre Liebe zur Musik wiederentdeckt.

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