"Der Ball ist ein Migrant"

TRIER. (daj) Sie nennen sich Türk Gücü Wittlich, Croatia Hagen oder FC Saloniki Essen. Hunderte von Fußballvereinen in Deutschland wurden von Einwanderern gegründet. Über die Geschichte der Migrantenklubs zwischen Integration und Ausgrenzung referierte am Freitag der Sporthistoriker Diethelm Blecking im Studienzentrum Karl-Marx-Haus.

Schon im Kaiserreich entstanden Sportvereine ethischer und religiöser Minderheiten, die in Deutschland lebten. Jüdische Organisationen wie "Bar Kochba" oder "Schild" gründeten sich ebenso wie Klubs von Dänen, Sorben oder Elsässern. Polnische Arbeiter, die ab etwa 1880 ins Ruhrgebiet einwanderten, schlossen sich im slawischen Sportbund Sokol (Falke) zusammen, einer Turnbewegung, die 1862 in Prag gegründet worden war.Engländer bringen den Fußball

Auch eine neue Sportart hielt im ausgehenden 19. Jahrhundert Einzug in Deutschland. Den Fußball brachten vermutlich englische Grubenarbeiter ins Kohlerevier. "Der Ball ist ein Migrant", formulierte es Blecking pointiert. So seien es auch vor allem weltoffene Kosmopoliten gewesen, die das Spiel populär machten und Sport als Mittel zur Völkerverständigung und Überwindung von Klassenschranken ansahen. Als Prototyp des "Polacken- und Proletenklubs" galt lange der FC Schalke 04. Den Gewinn der deutschen Meisterschaft 1934 vermeldeten polnische Medien gar mit der Schlagzeile "Polen deutsche Fußballmeister" - tatsächlich waren die Spieler allerdings in der Mehrzahl Ostpreußen, die sich nicht als Polen, sondern als Masuren verstanden. Den Nationalsozialisten dienten die Gelsenkirchener dagegen bald als Vorbild eines deutschen Arbeitervereins. Mit der Gleichschaltung der Vereine im Reichsbund für Leibesübungen und dem Verbot jüdischer oder polnischer Verbände fand die Vielfalt der Sportorganisationen ein vorläufiges Ende. Nach dem zweiten Weltkrieg waren es dann die als Gastarbeiter nach Deutschland gekommenen Migranten, die ihre eigenen Klubs gründeten. Im Ruhrgebiet stellen sie etwa zehn bis 15 Prozent aller Fußballvereine, eine offizielle Statistik darüber gibt es jedoch nicht. Ihren Mitgliedern bieten sie mehr als nur Sport, sie dienen als kulturelles Zentrum und soziales Netzwerk. "Die Freundschaft ist besser", das bekomme man immer wieder in Gesprächen zu hören - auch von Deutschen, die dort als Spieler oder Trainer tätig sind.Sport fördert die Integration

Sind ethnisch geprägte Vereine in Deutschland ein Zeichen mangelnder Integrationsbereitschaft? Dem widerspricht Blecking. "Türken sind im Fußball aktiv wie in keinem anderen Teil der Gesellschaft", erklärt er und betont damit die integrationsfördernde Seite des Sports. Der türkische Klub sei vor allem eine "Erholung vom Anderssein", dort brauche man sich nicht als Fremder zu fühlen. Dass Jugendliche von ihren Eltern gezwungen würden, in einen ausländischen Verein zu gehen, wie DFB-Präsident Zwanziger behauptet habe, das hält Blecking schlicht für "Unsinn". Mit dem Vortrag und der anschließenden angeregten Diskussion endete die Veranstaltungsreihe über die Sozial- und Kulturgeschichte des Fußballs. Durch die Thematisierung unterschiedlichster Aspekte wurden dabei jenseits von Torwartfrage und Tabellenstand viele Einblicke in die geschichtlichen und gesellschaftlichen Hintergründe des Sports vermittelt.

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