Die Pirouettendreherin

TRIER-SÜD. Sie streckt das Bein, als wäre sie noch ein Mädchen im Unterricht. Auch mit 69 Jahren steht Anita Soprani zu ihrer Leidenschaft, dem klassischen Balletttanz.

Aus der dicken Mappe purzeln alte Fotos und Zeitungsausschnitte hervor. Eine Frau ist auf den Bildern mit einigen Kindern zu sehen, die Fotos zeigen Momentaufnahmen aus längst vergangenen Ballettunterrichtsstunden. Die Finger von Anita Soprani gleiten über das schwarzweiße Bild, es erzählt Geschichten aus der Zeit, von Auftritten und den Übungsfiguren, die dort zu sehen sind. Doch was für andere nur Erinnerungen an vergangene Ereignisse ist, bedeutet für Frau Soprani die aktiv gelebte Gegenwart. Sie geht auf die 70 Jahre zu, das ist eine Zahl, die Respekt einflößt. Die elegant gekleidete Dame, Mutter zweier erwachsener Kinder, lässt sich davon nicht beeindrucken. "Hier, schauen Sie mal", sagt sie, lacht und streckt mühelos den Fuß, so wie man es aus dem Ballett kennt. "Ballettfuß", sagt sie. Seit ihrem achten Geburtstag dreht die Liebhaberin des Bühnentanzes zu klassischen Musikstücken ihre Pirouetten - früher drei- bis viermal die Woche, auch im Trierer Stadttheater. Heute sind es immer noch zwei Stunden wöchentlich in einem Trierer Tanzstudio in einer Gruppe von 30 Teilnehmerinnen. Die älteste ist sie. Zu Hause hat sie sich eine Übungsstange an einer Wand anbringen lassen. "Ich trainiere jeden Tag", verkündet sie stolz. "Meine Tante hat mich damals ins Saabrückener Theater zu einer Aufführung klassischen Balletts mitgenommen", begründet die gebürtige Triererin ihre Leidenschaft. "Musik im Blut" brauche man für das Ballett, an dem sie das "graziöse Gehen" so sehr schätzt. "Tanzen hält geistig fit", sagt Frau Soprani. Sie hat nicht nur selbst getanzt, sondern auch unterrichtet, zehn Jahre lang an der Trierer Familienbildungsstätte. 40 Kinder seien das damals gewesen, sagt Frau Soprani, mit ihnen sei sie im Nell's Park aufgetreten, die Auftrittskostüme habe sie selbst genäht. Die Namen der Figuren kommen ihr mühelos über die Lippen, eine "Arabesque" habe sie etwa von den Kindern verlangt, das Anheben des Beins mit gestrecktem Knie. "Vielleicht hängt es mit einigen Vorfahren meiner Familie zusammen", sagt Soprani, Schauspieler seien sie gewesen. Der Vater aber, Uhrmachermeister, schickt seine vier Töchter in die Kaufmannsberufe. Soprani wird Verkäuferin in einem Schmuck- und Uhrengeschäft, lernt ihren aus Italien gebürtigen Mann Silvano kennen. Zwanzig Jahre lang hat sie in der Trierer Firma Christ gearbeitet, sie sei beruflich die am längsten aktive Juwelierin in Trier, das habe die Handwerkskammer ihr mal erklärt. Aber erst mit 53 hat sie an der Saarstraße den Schritt vom Angestelltendasein zum eigenen Schmuckgeschäft gewagt. In ihrem Laden bietet sie ihren vorwiegend jüngeren Kunden Silberschmuck und Uhren sowie einen Reparaturservice an. "Ob ich in diesem Alter das noch machen kann?", habe sie sich damals bei der Geschäftseröffnung gefragt. Damals. Ans Aufhören denkt sie jedenfalls nicht - das bezieht sich nicht nur auf ihren Beruf, sondern auch auf ihre Tanzleidenschaft. "Ich mache das, solange ich Spaß daran habe."

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