Die Reise nach Trier

Mitte November 1944 tauchte plötzlich der Vater bei uns in Thüringen auf. Er hatte von seiner Volkssturmeinheit einige Tage Urlaub bekommen. Ich war sprachlos, als er sich bei Herrn Einert, dem Besitzer des Hauses, in wohlgesetzten Worten für die Aufnahme seiner Familie bedankte. Vater war im allgemeinen sehr schweigsam. Bei der Rückfahrt nach Trier fuhren Mutter und ich mit, um noch Hausgeräte zu holen. Die Erlaubnis, in eine geräumte Zone zu fahren, war nur mit viel Mühe zu erlangen. Zurück blieben Cilli, 16 Jahre alt, Klaus, sieben Jahre und Willi, fünf Jahre alt. Wovon die drei sich in der Abwesenheit von Mutter ernährt haben, ist aus heutiger Sicht ein Rätsel. Wir drei fuhren abends mit einem hoffnungslos überfüllten Zug weg. Der fuhr sogar pünktlich. Frühmorgens wurde Frankfurt-Süd erreicht, und hier hieß es aussteigen, weil die weiterführende Strecke zum Hauptbahnhof durch einen kurz zuvor erfolgten Bombenangriff unterbrochen war. Zu Fuß gingen wir durch die schon stark zerstörte Stadt. Im Schumann-Bau am Hauptbahnhof bekam man sogar serviert von einem befrackten Kellner. Ich hatte das Gefühl, es wäre besser gewesen, man hätte uns nach Frankfurt evakuiert. Die Bahnhofshalle war ein Gerippe. Geduldig wartete man auf eine Weiterfahrt. Mit einem Personenzug Richtung Koblenz ging es weiter. Ein Jabo-Angriff in der Nähe von Rüsselsheim erzwang auf freier Strecke den Halt und Flucht in die angrenzenden Kiefernwälder. Irgendwann ging es weiter, aber in Bingen, mittlerweile dunkel, war es mit der Weiterfahrt aus. Eisenbahner erklärten, dass die Strecke hinter Bingerbrück unterbrochen sei. Kurze Beratung, dann ging es zu Fuß weiter nach Münstersarmsheim in der Hoffnung, über die Nahestrecke weiter zu kommen. Später, als ich in Bingen auf der Ingenieursschule war, bin ich die Strecke nochmals gegangen, um frühere Empfindungen nachzuerleben.Essensprobleme nicht im Vordergrund

Von Münstersarmsheim ging es tatsächlich weiter mit einem Zug bis Türkismühle, dort umsteigen und nach Hermeskeil und dort dasselbe noch mal Richtung Trier. Bis dahin waren wir schon zwei Tage unterwegs. Wovon wir gelebt, gegessen und getrunken, ist mir nicht mehr erinnerlich. Mit Sicherheit hatten wir alle kein Normalgewicht, kein Idealgewicht, sondern Untergewicht, trotzdem haben Essensprobleme nicht im Vordergrund gestanden. Die Restfahrt nach Trier ergab nichts Besonderes. Sie ist aber erwähnenswert, weil ich mich genau daran erinnern kann, dass in Mertesdorf ein mit Panzern beladener Zug auf einem Nebengleis stand. Die Ankunft in Trier war tief deprimierend. Der Hauptbahnhof war im September 1944 zerstört worden, kurz danach auch die Pfalzeler Brücke. Seitdem fuhren alle Züge von Trier-West ab, lediglich für die Strecke nach Hermeskeil gab es keine Alternative. Der Bahnhof war notdürftig aufgeräumt. Durch eine Geröllschlucht mit sorgfältiger Berechtigungskontrolle kam man in eine Geisterstadt. Alles tot und still, keine Autos keine Straßenbahn, nur vereinzelt Menschen. Die Straßen voll Unrat, aus gebrochenen Fenstern hängende Gardinen, an den Hauswänden Plakate mit Durchhalteparolen. Wir blieben nur einige Tage. Einen Tag streifte ich durch die Stadt, wobei ich etliche Male kontrolliert wurde. Zivilpersonen sah ich kaum, nur Uniformierte. Die Schaufenster und Eingänge der Geschäfte waren mit Brettern zugenagelt. Ganz oben am klaren Himmel Bündel von Kondensstreifen, die Flugzeuge flogen so hoch, dass man keinen Laut hörte. Die Rückfahrt ging vom Westbahnhof. Der Händedruck vom Vater war der letzte. Wir sollten ihn lebend nicht wiedersehen. Im thüringischen Tabarz verlief das Leben wie im Frieden. Herr Einert bat mich, in seinem Betrieb mitzuhelfen. Er handelte mit Bruyère-Pfeifen, Zigarettenspitzen und Geschenkartikeln aus Bernstein. Franz Schröder, Mertesdorf Die Familie war in Thüringen evakuiert.

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