Die kleinen Helden von Tschernobyl

TRIER. Der 26. April 1986 hat auch das Leben der gebürtigen Ukrainerin Sofija Semlanaja verändert. Sie war eine von fast drei Millionen Einwohnern der ukrainischen Hauptstadt Kiew, die die Katastrophe des Atomreaktors von Tschernobyl miterlebt haben.

Am 26. April 1986 und kurz darauf war die Welt in Kiew noch in Ordnung. Zumindest schien dies so. Während westliche Radiosender von einer großen Wolke über dem Reaktor von Tschernobyl und einer erhöhten Radioaktivität über Nordeuropa berichteten, schwieg sich die sowjetische Regierung zum Vorfall aus. Die Bürger der Sowjetunion und insbesondere die Einwohner von Kiew, die nur 90 Kilometer von den schrecklichen Ereignissen entfernt waren, wiegten sich in Sicherheit. Die Bevölkerung war der festen Überzeugung, dass ihre Regierung sie vor allem Unheil schützen würde. Aber die Todeswolke, die am 26. April von Tschernobyl auch in Richtung Hauptstadt zog, brachte eine Art von Unheil und Verderben mit sich, die auch die sowjetische Regierung nicht aufhalten konnte. Erst am 29. April wurde in der wichtigsten Nachrichtensendung des Landes "Wremja" ("Die Zeit") darüber berichtet, dass der Reaktor in Tschernobyl ungeplant zum Stehen kam. Die Situation sei jedoch unter Kontrolle und die Bevölkerung in Sicherheit. Am 1. Mai, dem Tag der Arbeit, fand die traditionelle Maikundgebung statt. Die damals 37-jährige Sofija Semlanaja feierte diesen Tag zusammen mit ihrem 14-jährigen Sohn. Es herrschte ein angenehm warmes Frühlingswetter. Nur einmal überkam die Mutter ein komisches Gefühl. Es schien ihr, als dass die Sonne eine Art glühender Hitze ausstrahlte. Im Fernsehen wurden immer wieder beruhigende Worte laut, dass alles in Ordnung und unter Kontrolle sei. Aber die Gerüchte um einen schrecklichen Unfall in Tschernobyl brachen nicht ab. Sofija kann kein genaues Datum nennen, aber irgendwann im Laufe der ersten Maiwoche haben die Machthaber zugegeben, dass eine schwere Explosion im Reaktor stattgefunden habe. Erst danach kamen die ersten Warnungen und Hinweise, wie sich die Bevölkerung in dieser Zeit zu verhalten habe. Die Fenster sollten verschlossen werden, die Kinder durften nicht mehr auf die Straße, um zu spielen, man sollte viel Quark essen, roten Wein trinken, Lebensmittelprodukte nach Möglichkeit waschen und die Ruhe bewahren. So viel Vertrauen brachten die Einwohner der Stadt der Regierung jedoch nicht mehr entgegen. Jeder, der eine Möglichkeit hatte, aus Kiew zu fliehen, tat es, ohne zu überlegen. Überfüllte Bahnhöfe und Flughäfen

Überfüllte Bahnhöfe und Flughäfen waren die Folge. Viele versuchten, zumindest ihre Kinder in Sicherheit zu bringen. Als allein stehende und allein verdienende Mutter konnte Sofija nicht aus der Stadt heraus. Ihr Sohn Gennadij hatte während dieses Sommers dauernd Nasenbluten, weswegen sie Angst hatte, ihn allein wegzuschicken. Die außerirdisch, unwirklich wirkende Leere der Straßen und die beängstigende Stille der Millionenstadt wird die Ukrainerin nie vergessen können. Der Frühling allein wollte trotz allem nicht aufgeben. Die Pracht blühender Kastanienbäume kam zum Vorschein, aber die weiß- und rosafarbenen Blüten waren wenige Stunden nach dem Erblühen gelb. Das Regenwasser schäumte wie in einer riesigen Waschanlage und hinterließ weiße seifenähnliche Spuren auf dem Asphalt. Mehrmals am Tag wurden die Straßen mit Wasser begossen. Kiew war wahrscheinlich nie so sauber wie in diesen tragischen Tagen. Sofija arbeitete in dieser Zeit in einem großen Betrieb namens "Elektromasch", in dem Platten für die Bagger-Roboter hergestellt wurden, die die durch Radioaktivität verseuchten Erdschichten wegschaffen sollten. Fast ohne Unterbrechung hat sie drei Tage lang zusammen mit ihren Kollegen diese Platten hergestellt. Die wertvollen Teile mussten von Hand zu Hand überreicht werden, damit sie keine Kratzer abbekommen und die Bagger-Roboter schnell in Einsatz gebracht werden können. Im darauf folgenden Herbst kamen Wunderfrüchte auf den Markt, die so gigantisch waren, dass man hätte denken können, sie wären aus dem "Land der Riesen" importiert worden. Seit 2002 lebt Sofija Semlanaja mit ihrem Sohn in Trier. Sie empfindet die Stadt als ein Stückchen vom Paradies, in dem Menschen ohne Angst atmen können und sich keine Gedanken darüber machen müssen, ob das Trinkwasser nicht vielleicht verseucht ist oder ob ein Apfel essbar ist. Weitere Zeitzeugenberichte zur Katastrophe von Tschernobyl: SEITE 20

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