Dr. Jekyll und Mr. Hide

TRIER. Muss man Trier im Sommer den Rücken kehren, um Urlaubsflair zu genießen? Ganz und gar nicht. Viele Fleckchen in der Stadt bieten eine Atmosphäre, die mit jedem Ferienziel locker mithalten kann. Wir stellen stimmungsvolle Plätze in einer kleinen Serie vor.

Wanderer, kommst du zum Viehmarkt, wähle die Abendstunde. Denn dieser Platz gleicht Dr. Jekyll und Mr. Hide: Er hat zwei Gesichter.Am helllichten Tag entfaltet die steinerne Fläche den Charme eines Truppen-Aufmarschplatzes. Unbarmherzig lenken die grellen Sonnenstrahlen den Blick auf eine hässliche, kariös wirkende Baulücke, wuchtige, gebäudegroße Tiefgaragen-Abluftschächte, bröselnde Bürogebäude auf der einen, unmotivierte Ausbrüche moderner Dachbauweise auf der anderen Platzseite.An manchen Tagen ergänzen wenig dekorative Marktstände das Bild, und dann schafft es selbst die eindrucksvolle Ungers-Vitrine nicht mehr, so etwas wie Flair zu verbreiten.Mit Einbruch der Dunkelheit ändert sich das Bild. Steinwüsten und Bausünden verschwinden im milden Mondlicht, nur noch vereinzelt umkreisen Automobilisten in hektischem Parksuchverkehr den einsamen Baum, der vor dem "In Flagranti" als Verkehrsinsel dient.Düsteres Thermenmuseum, kecke Antoniuskirche

Der Thermen-Glaspalast, schlechter beleuchtet als jedes Toilettenhäuschen, verwandelt sich in einen düsteren Klotz - eine vertane Chance. Dafür reckt die Antonius-Kirche keck ihr Dach in den Abendhimmel, als wäre sie stolz darauf, dass sie ihren Status als höchstes Gebäude am Platz einst mit Zähnen und Klauen gegen den Sparkassen-Neubau verteidigte. Und die leuchtende Geburtstags-"200" auf dem Dach des Theater-Bühnenturms bringt Kindermanns Musentempel nachhaltig in Erinnerung.Derweil entsteht nach Sonnenuntergang auf der südwestlichen Platzseite im Handumdrehen eine Art Oase. Unaufdringlich bunte Kneipen-Entrees laden zum Verweilen ein, sprechen unterschiedliche Geschmäcker an: Neben "Infla", der rustikalen Handballer-Stammkneipe auf der Ecke, lockt das "Abaco" mit Kronleuchtern, bildbehangenen Wänden und rotplüschigem Charme, daneben sprechen Simplizissimus, Havanna, Café Greco und Barocco gemischte Zielgruppen von Lifestyle bis Latschenträger an.So individuell die Kneipenszene, so clever die gemeinsame Vermarktung der großen Freiluft-Fläche, die sich die Gastronomen teilen. Massige Schirme in einheitlichem Weiß, solide Korbstühle, keine wahrnehmbaren Grenzen zwischen den Territorien: Da kann sich Platz-Atmosphäre entfalten.Welchem Etablissement der eigene Tisch zugeordnet ist, merkt man gelegentlich erst dann, wenn das Bier auf dem Tisch steht. Warsteiner, Bitburger oder Karlsberg: Das ist oft nur eine Frage von 60 Zentimetern nach links oder rechts. Nicht nur deshalb empfiehlt sich ein vorsorglicher Blick auf die Karte: Neben den Bier-Giganten können Kenner auch diverse Sorten von Hefeweizen, Kölsch oder Alt vom Fass verkosten - je nachdem, wo sie sitzen.Längst verblasst ist die Erinnerung an die Weinstube, die an gleicher Stelle über Jahre tapfer ihrer Schließung trotzte, als der Viehmarkt eine Dekade lang zur umstrittenen Dauerbaustelle verkam. Schade: Heute stünde dem gefragtesten gastronomischen Freiluft-Bereich der Weinregion Trier ein solches Angebot gut zu Gesicht.Der Biergarten: Liebe auf den ersten Blick

Apropos Dauerbaustelle: Noch vor zehn Jahren hätte niemand dem Viehmarkt ein solches Comeback zugetraut. Doch der Biergarten und das junge Trierer Publikum, das war Liebe auf den ersten Blick. Eine typische "Szene" gibt es nicht, wer zwischen Zwanzig und Vierzig ist, findet sich ein, unabhängig von Bildung und sozialem Status. Teenies sind eher Mangelware. Und wer jenseits der 45 ist, hat alle Chancen auf die Nominierung für den Ältestenrat.

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