Ein fremder Mann

Ich kann mich noch sehr gut an die Nachkriegszeit erinnern. Bei mir persönlich änderte sich alles schlagartig. Bis dahin hatten meine Oma, meine Mutter und ich friedlich zusammengelebt. Sie erzählten mir von meinem Vater, der sicher bald nach Hause käme, er war nämlich in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Diesem Tag sah ich mit gemischten Gefühlen entgegen. Eines Tages war es dann so weit. Ein fremder Mann, der ziemlich zerlumpt aussah, stand vor der Tür. Das sollte mein Vater sein? Ich war mittlerweile schon fünf Jahre alt und hatte ihn noch nie gesehen. In meiner Fantasie sah er ganz anders aus.Heile Welt auf den Kopf gestellt

Meine Mutter freute sich sehr. Sie zog aus unserem gemeinsamen Schlafzimmer aus, was bei mir zu heftigen Eifersuchtsszenen führte. Dieser Fremde stellte meine heile Welt auf den Kopf. Ganz langsam gewöhnte ich mich an ihn. Es war doch schön, wenn wir spazieren gingen und ich müde wurde, von ihm getragen zu werden. Zuerst reparierte er das von Granatsplittern löchrige Dach. Ich bewunderte ihn, dass er so hoch klettern konnte. Ganz besonders erinnere ich mich noch heute an das "Hasenbrot", das er abends mit nach Hause brachte. Das so genannte "Hasenbrot" waren seine Brote, die er bei der Arbeit nicht alle aufgegessen hatte. Warum diese trockenen Scheiben so gut schmeckten, ist mir heute ein Rätsel, zumal der Belag mehr als dürftig war. Mein Vater fand auch bald Arbeit. Zuerst musste er drei Kilometer bis zum nächsten Bahnhof laufen, später konnte er sich ein Motorrad leisten. Morgens kamen die Leute von Möhn und Newel durch unseren Ort, um nach Kordel zum Zug zu gehen. Sie hatten jeweils sechs Kilometer zurückzulegen. Niemand beschwerte sich, alle waren froh, dass der Krieg zu Ende war und es wieder aufwärts ging. Es wurden Feste gefeiert. Die jungen Männer mussten mit ihrem Taschengeld gut haushalten, denn die Mädels wurden eingeladen. Gleich zu Anfang kauften sie sich eine ganze Reihe von Tanzkarten, das Stück zu zehn Pfennig, denn nur mit so einem Billet konnte man das Tanzbein schwingen. Als ich 1955 aus der Schule entlassen wurde, standen mir alle Türen offen. Man konnte sich die Lehrstellen aussuchen. Am Ende des Monats kam ich stolz mit meinen 25 Mark Lehrlingsgeld nach Hause. Meine Mutter freute sich, da dieses Geld die Haushaltskasse mächtig auffüllte. Gertie Ziwes, Einzelhandelskauffrau aus Trierweiler-Sirzenich

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