Gesetz und Evangelium

Meine fromme Tante war für 14 Tage zu Besuch. Wieder einmal hatte sie mich traktiert mit ihrer Liebe zu theologischen Begriffen. Diesmal waren es: "Gesetz" und "Evangelium". Sie war ganz närrisch auf ihre Argumentation, dass der Mensch nur selig durch das Befolgen der Gebote Gottes, eben das "Tun des Gesetzes" werden könne.

Schließlich brachte ich sie zum Bahnhof. Gepäck für 14 Tage hat sein Gewicht. Weit hätte ich es nicht schleppen können. So fuhr ich mutig nah an den Bussteig. Der Haken: Das Befahren ist verboten. Noch während ich die schwere Tasche aus dem Kofferraum hieve, sehe ich sie: zwei Bahnhofspolizisten. Auch sie haben mich gesehen. Herzklopfen! Ob es wohl wegen der Minutenaktion Palaver geben wird? Aber während ich die alte Dame zum Abschied fest in die Arme schließe, sehe ich, wie sich die beiden Uniformierten ganz bewusst, und das heißt für mich "gnädig", einer anderen Aufgabe zuwenden. Wie schön, dass meine Tante es auch gesehen hat. Weil das Gesetz hier nicht angewandt wurde, sondern die Beamten ein Auge zudrückten, machte sich in mir das Evangelium frei. Erleichterung und frohen Mut beherrschten meinen Tag. Ein Lob auf die, die das Gesetz achten, aber im Zweifelsfall für den Menschen entscheiden. Ob die fromme Tante auch aus dieser Situation gelernt hat? Pfarrer Matthias Jens jens.ehrang@ekkt.de

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