Große Lust am Fabulieren

IRSCH. Franziska Wollscheid ist eines der letzten "Überbleibsel" des Bauerndorfes Irsch und gehört mit ihren skurrilen Einfällen und ausgefallenen Verkleidungen ebenso zum Dorfbild wie die Irscher Burg.

 Eine Irscherin alten Schlages: Franziska Wollscheid.Foto: Jutta Edinger

Eine Irscherin alten Schlages: Franziska Wollscheid.Foto: Jutta Edinger

"Hundert Jahre hat das Haus schon auf dem Buckel", sagt die Frau und zeigt auf die alten Mauern. Sie legt die Gartenschere weg. Mächtige Arme mit vom Wetter gegerbter Haut wachsen aus ihrem keck gemusterten Kleid. Zwischen widerspenstigem, weißem Haar glühen feuerrote Backen. Doch wer glaubt, sie hätte sich schon einen Wein genehmigt, der kenne sie schlecht, scherzt Franziska Wollscheid. Junge Frauen, die neu im Ort sind, nennen sie schlicht "die Bäuerin", und alle wissen , wer gemeint ist. Anno 2000 verblüffte sie bei Irschs 1025-Jahr-Feier, als sie aus 40 Litern Milch "weißen Käse", also Quark, selbst herzustellen wusste. "Bäuerin" mit eigener Landwirtschaft war Franziska Wollscheid noch vor zehn Jahren. Heute ist davon nur noch ein kleiner Nutzgarten und ein Feld Sonnenblumen geblieben. Im Haus Irscher Straße 58 kam sie 1919 zur Welt. Die Familie lebte, wie die meisten im Dorf, von der Landwirtschaft. Auch das jüngste von sieben Kindern musste anpacken. Eines Tages bekam Franziska ein Fahrrad, und es hieß, sie solle Schneiderin lernen in Trier. Sie radelte jeden Morgen ins Tal und senkt ihren Kopf über filigranen Näharbeiten. Doch gleich nach der Gesellenprüfung wurde sie zum Dienst in der Landwirtschaft verpflichtet. Sie heiratete einen Bauern aus Filsch, drei Kinder kamen auf die Welt. Die Nadel der "Singer" ruhte fortan, die Arbeit auf dem Feld und im Stall hatte Vorrang. Für Generationen von Kindern in Irsch wurde sie die "Gronius Franziska" - so ruft man sie nach dem alten Hausnamen der Familie Wollscheid-Becker. Heute macht sich Franziska Wollscheid wieder einen Spaß daraus, ausgefallene Kostüme zu schneidern. Denn zu gern schlüpft sie in neue Rollen. Die Irscher kennen sie heute als stolze alte Dame, die beim Karnevalsumzug in einem schwarzem Kleid und einen weißen spitzenbesetzten Schirm am Straßenrand flaniert und die, die an Weiberfastnacht als "komische Alte" in der Bütt steigt. Um einen Einfall ist sie nie verlegen. Denn aus allem, was um sie herum geschieht, was sie hört und liest, aus einer Zeitungsnachricht, einer Szene im neuesten Moselkrimi und einem Schuss Fantasie weiß sie eine eigene Geschichte zu weben. "Unsere ganze Familie ist sehr verlesen", sagt sie verschmitzt. Während ihre Schulkameraden die Mädchen an den Zöpfen zogen, vergrub sich Franziska Wollscheid hinter ledergebundenen Karl-May-Ausgaben. Selbst von Schulbüchern, die die Volksschullehrerin ihr zusätzlich besorgte, konnte sie nicht genug bekommen. Hungrig ist die Irscherin nach fernen Ländern, nach Menschen und ihren Schicksalen auch noch heute. Doch sie liest und konsumiert nicht einfach: Nicht selten ertappt Franziska Wollscheid sich dabei, wie sie vorwitzig die Handlung kommentiert oder mit den Figuren spricht. "Die Lust am Fabulieren hab ich von meinem Vater geerbt", ist sie sich heute sicher. Den Stoff dafür liefern ihr auch zahllose alte Gedichte und Geschichten, die sie mit den anderen Senioren in Irsch austauscht. Wenn Franziska Wollscheid munter aus den wasserblauen Augen blickt und von einer "Witwe Humpelmann", einem Regenschirm als lästigem Erbstück oder der "Eierkur" erzählt, dann klingt es so, als sei ihr dies wirklich passiert. Und wenn man sich von Franziska Wollscheid verabschiedet, ist man nie ganz sicher, ob sie nicht bereits den Stoff gefunden hat, mit dem sie morgen schon mit verschmitzter Miene eine Geschichte zum besten gibt. Morgen in unserer Serie: Die schwierige Suche der Irscher Jugendlichen nach einem geeignetem Treffpunkt.

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