Immer wieder schreit er "Hilfe"

Benedict hat keine Chance. Hilflos hängt er in Bernds Griff. Der bullige Mann zerrt den 13-Jährigen grob durch die Glockenstraße. "Lass mich", schreit der Junge. Immer wieder ruft er um Hilfe. Doch es dauert lange, bis endlich jemand reagiert.

Trier. Benedict ist in Gefahr, daran kann niemand zweifeln. Bernd schleift ihn hinter sich her, packt dabei brutal zu. Seine Kleidung - Lederjacke, Sonnenbrille, Wollmütze - trägt nicht zur Beruhigung bei. Der Adrenalinspiegel der Augenzeugen, die diese Szene an einem verregneten Nachmittag in der Trierer Innenstadt miterleben, schnellt erkennbar nach oben. Köpfe drehen sich, Mienen drücken Befremden und Erschrecken aus. Aber alle Füße bewegen sich weiter, und zwar weg von Bernd und Benedict. So schnell wie möglich.

Die beiden haben schon fast die Rindertanzstraße erreicht, als endlich jemand eingreift. Couragiert und entschlossen geht Sonja Bertram auf Bernd zu, baut sich vor ihm auf, schreit ihn an. Sie hat die Hilferufe des Jungen gehört und kommt raus auf die Straße, um zu sehen, was los ist. Sehen, reagieren, handeln - von allen Augenzeugen der Szene hat nur sie die notwendige Courage.
Aggressor Bernd hat den schwersten Job

Hier endet die Simulation. Bernd lässt Benedict los, ein Kamerateam taucht auf. Sonja Bertram ist zuerst verdutzt, reagiert aber positiv, als sie erfährt, dass sie Zeugin einer gestellten Szene war. Einer von vielen gestellten Szenen an diesem nassen Nachmittag. Das Projekt heißt "Trier gegen Gewalt 2008". Es geht darum, die Hilfsbereitschaft der Menschen in Trier zu testen. Wie reagieren sie, wenn sie sehen, dass jemand Hilfe braucht? Halten sie sich raus? Wissen sie, was im Notfall zu tun ist? "Man muss helfen", sagt Sonja Bertram schlicht. "Oh Mann, jetzt habe ich eine dicke Gänsehaut."

Das Team bereitet sich auf die nächste Testsituation vor. Die beiden Kameramänner der Trie rer Produktionsfirma "Mediaworkx", die das vom Trierischen Volksfreund mitgeplante und organisierte Projekt im Bild festhalten, prüfen ihre Ausrüstung. Die Statisten atmen tief durch, besonders Bernd ist nervlich angespannt. Er spielt in jeder Szene den Aggressor, und das macht ihm sehr zu schaffen. "Ich halte durch", sagt er dennoch. Constantin Mock, Rechtsanwalt in Trier und Initiator von "Trier gegen Gewalt 2008", klärt per Handy, wo das Team als nächstes zuschlägt. Mock hat die Präventionsplattform "Bündnis gegen Gewalt" 2004 gegründet. In seiner Trierer EWTO-Schule (Euro pean Wing Tsun Organisation) lehrt er Kinder die Mittel der Selbstbehauptung und hat die Statisten auf ihren Einsatz vorbereitet.

Das Team wiederholt die Szene mit Bernd und Benedict auf dem Domfreihof. Viele sehen zu, niemand reagiert. "Ich dachte, das wären Vater und Sohn", sagt ein Augenzeuge. "Da wollte ich mich nicht einmischen."

Szenenwechsel: Das Team sammelt sich auf dem Viehmarkt. Hier wird die nächste Szene laufen. Der 13-jährige Benedict schubst und bedrängt den mit neun Jahren viel kleineren Christof. Die Position der versteckten Kamera wird festgelegt, ein Winkel gesucht, in dem sich die große Kamera, mit der nach der Auflösung die Reaktionen gefilmt werden, bis zu ihrem Einsatz den Blicken entziehen kann.

Einige Zeugen wollen sich herausreden

Christof ruft laut um Hilfe. Immer und immer wieder. Niemand hilft - bis auf Anna Braun. Die resolute Dame gebietet dem Treiben Einhalt. "Ich habe selbst Enkel in diesem Alter", sagt sie nach der Auflösung dem TV. "Ich kann zwar nicht körperlich eingreifen, aber ich kann laut werden und Aufmerksamkeit erregen." Genau die richtige Reaktion. Andere Zeugen reden sich heraus, auch vor laufender Kamera. "Wenn ich immer dazwischen gehe, wenn Kinder miteinander rangeln, werde ich ja nicht mehr fertig", sagt einer. "Ich habe nichts gesehen", behauptet ein weiterer. Dabei kämpften die beiden Kinder direkt vor seiner Nase.

Bernds nächstes Opfer ist Victoria. Die junge Frau wird von Mediaworkx mit einem versteckten Mikro ausgerüstet. Bernd ist blass, er hat heute den schwersten Job. Und er macht ihn gut.

Direkt vor der Karstadt-Filiale packt er Victoria und schüttelt sie. Sie schreit laut - und die Reaktion folgt sofort. Das Team kann einen Mann gerade noch daran hindern, sich auf Bernd zu stürzen. Als er die Kamera bemerkt, dreht er sich wortlos um und geht. Auch Erwin Funk ist bereit, muss aber nicht mehr eingreifen, da wir die Situation sofort auflösen. Funk gehört zum Sicherheitspersonal eines Trie-rer Kaufhauses. "Ich hätte den Angreifer außer Gefecht gesetzt."

Vor einer Tchibo-Filiale wird ein Tisch mit einem Statisten besetzt. Dieser sorgt dafür, dass keine Gläser und Tassen darauf stehen, denn sie würden gleich zu Bruch gehen. Die Filialleitung ist informiert und gibt grünes Licht für die Aktion. Constantin Mock nähert sich diesem Tisch aus der Grabenstraße, Bernd kommt ihm vom Hauptmarkt entgegen. Direkt vor dem Tisch begegnen sich die beiden, rempeln sich an, beginnen sich zu schubsen und anzuschreien. Bernd greift an, doch Mock wehrt ihn mit einem Armhebel ab und wirft ihn über den Glas- und Tassen-freien Tisch. Um die Szene herum: Menschen mit weit aufgerissenen Augen und Fassungslosigkeit ausdrückender Mimik. Mock schreit: "Dieser Mann hat mich angegriffen. Sie müssen das bezeugen."
Niemand hilft, alle schauen weg

Man sieht einigen Zeugen an, dass sie am liebsten die Flucht ergreifen würden. Niemand bestätigt Mocks Aufforderung oder versucht gar, ihm gegen den noch am Boden liegenden Bernd beizustehen. Die Situation wird aufgelöst, große Erleichterung macht sich breit. "Ich wüsste nicht, was ich in einer solchen Situation machen sollte", sagt einer. Andere wollen erst gar nicht genannt werden. Eine Aussage als Zeuge? "So genau habe ich das nicht gesehen, es ging alles zu schnell."

"Trier gegen Gewalt 2008" endet auf dem Hauptmarkt mit dem Gewalt-Rap eines von Beatrice Bergér geleiteten Kinderchors. Bergér ist Gründerin des gemeinnützigen Kinder- und Jugendvereins "Mut's e.V." und erregt mit ihren Kindern die Aufmerksamkeit vieler Passanten. "Gewaltprävention ist in den letzten beiden Jahren ein Großthema für uns geworden", sagt sie.
Extra

Der rechtliche Hintergrund

 Christof, der mit neuen Jahren jüngste Statist, wird verkabelt.

Christof, der mit neuen Jahren jüngste Statist, wird verkabelt.

Foto: Jörg Pistorius

Die Notwehr regelt das Strafgesetzbuch im Paragrafen 32: "Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriff von sich oder anderen abzulenken." "Erforderlich" ist eine Verteidigung, die eine direkte Beendigung des Angriffs bewirkt. Der Verteidiger muss dabei den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten: Der Notwehr-Paragraf deckt keine übertriebene und unnötige Härte gegen den Angreifer. "Gegenwärtig" bedeutet, dass Notwehr nur möglich ist, solange der Angreifer aktiv ist. Wer zuschlägt, nachdem der Angriff beendet ist, begeht selbst eine Straftat.

Die unterlassene Hilfeleistung steht im Paragrafen 323c: "Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten ist, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr oder Verletzung anderer wichtiger Pflichten, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft." Niemand wird demnach gezwungen, einen aussichtslosen Faustkampf mit mehreren Angreifern zu beginnen oder sich in den Kampf zu stürzen und ein Kleinkind schutzlos stehen zu lassen. Doch der Ruf nach Hilfe, die Alarmierung der Polizei oder der Rettungskräfte und Erste-Hilfe-Maßnahmen bleiben absolute Pflicht. (jp)

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