Irr-Fahrt nach Mitternacht

TRIER/KEMPFELD/BÜDLICH. Straftäter oder Kranker? Darum geht es in einem Prozess vor dem Landgericht Trier. Angeklagt ist ein 44-jähriger Mann, der in zwei Hunsrück-Gemeinden gezielt mehrere Autos demoliert hat.

Es war in den frühen Morgenstunden des 9. Juli 2002, als der Fahrer des dunklen Audi 80 vor dem Anwesen der Familie K. in Büdlich ankam. Er nahm ohne Hektik Maß und begann, mit der Stoßstange das erste Auto in ein Scheunentor zu schieben. Als er wieder wegfuhr, hatte er ganze Arbeit geleistet. Drei beschädigte Autos, ein eingedrücktes Tor, ein demolierter Gartenzaun, 10 000 Euro Sachschaden.Fühlte sich geprellt

Aber das Werk war noch nicht beendet. Bevor der Audi in einem Hunsrückwald den Geist aufgab, steuerte sein Besitzer ihn nach Kempfeld und fuhr dort ein weiteres Fahrzeug werkstattreif, indem er es in ein Garagentor drückte. Ein Jahr später steht Kurt S. vor der dritten Strafkammer beim Trierer Landgericht und schildert fast emotionslos die Hintergründe seiner damaligen Tat. Er fühlte sich in Erbschafts-Angelegenheiten geprellt, wollte "einen Schlußstrich ziehen" unter die Auseinandersetzungen mit dem, was er als seine "bucklige Verwandschaft" bezeichnet. Dass er dabei auch Unbeteiligte und Randfiguren erwischte, gehört zu den vielen Eigenarten dieses Falles, der auf einem schmalen Grat zwischen Tragik und Skurrilität wandelt.Zahlreiche Schicksalsschläge

Die Lebensgeschichte des Mannes, der trotz des vergleichsweise harmlosen Anklagepunkts "Sachbeschädigung" in Handschellen vorgeführt wird, enthält Schicksalsschläge, die für ein halbes Dutzend Durchschnitts-Biographien ausreichen würden. Sein Erzeuger macht sich nach der Geburt davon, seine depressive Mutter tötet sich, als Kurt S. fünf Jahre alt ist - er ist es, der die Leiche findet. Sein bester Freund kommt bei einem Motorrad-Unfall ums Leben, der geliebte Halbbruder stirbt mit 33 Jahren auf der Autobahn. Und doch führt Kurt S. über Jahre ein normales Leben. Er lernt Maschinenschlosser, arbeitet bei großen Trierer Firmen, wird sogar Vorarbeiter. Er heiratet eine Kollegin, wird 1992 Vater. Später zerbricht die Ehe. Alle Daten, Geburt, Scheidung oder Tod, hat der Mann mit der etwas unzeitgemäßen "Vorne-kurz-hinten-lang-Frisur" bei der Befragung durch Richter Schlottmann tag-genau parat.Irgendwann den Boden unter den Füßen verloren

Irgendwann muss er dann begonnen haben, den Boden unter den Füßen zu verlieren. "Er wurde immer seltsamer", hört die Polizei später bei ihren Ermittlungen. Kurt S. schreibt Liebesbriefe an Frauen, die in seiner Nachbarschaft wohnen oder die er im Supermarkt trifft. Nichts Anzügliches, eher Poesie, einfühlsam, etwas unbeholfen, aber durchaus von einer Art, wie sie wohl viele Frauen gerne einmal von ihrem Partner hören würden. Aber Kurt S. ist nicht ihr Partner, sie kennen ihn kaum, sind irritiert. Ihre Ablehnung reißt ihn aus seiner Fantasiewelt, er reagiert beleidigt - und beleidigend. Als er auch noch den Job verliert und die Miete nicht mehr zahlen kann, eskaliert die Situation. Kurt S. fühlt sich betrogen. Nach dem Tod seines Halbbruders hat er auf seinen Erbteil verzichtet, "aus Mitleid mit der Witwe", wie er sagt. Nun fordert er in Briefen und Karten sein Geld zurück, mit immer bedrohlicherem Unterton. Inzwischen ist auch sein Stiefvater gestorben, der ihm Hoffnung auf ein Erbteil gemacht hatte. Wieder geht er leer aus. Er nimmt Kontakt mit der Tochter der Haupterbin auf, verlangt auch von ihr einen Anteil. Erst freundlich, um Mitgefühl werbend, dann erpresserisch. Als das Opfer den Anwalt einschaltet, beschließt er, alle zu betrafen, die ihm vermeintlich sein Erbe vorenthalten. Und zwar, indem er "ihr liebstes Kind beschädigt". So fährt er eines Nachts Richtung Hunsrück.Schwere Störung der Persönlichkeit

Kurt S. leide unter einer "schizotypen Störung", sagen die psychologischen Gutachter. Das ist eine schwere Persönlichkeitsstörung, die aber nicht den Krankheits-Grad einer Schizophrenie erreicht. Bei der Ausführung der Tat sei er "in seiner Steuerungsfähigkeit erheblich eingeschränkt" gewesen, aber nicht gänzlich schuldunfähig. Für das Gericht ist die Situation nicht einfach. Ein Urteil "von der Stange" passt nicht. Die Sachbeschädigung ist kein Kapitaldelikt, mehr als eine kurze Freiheitsstrafe ist nicht zu erwarten. Stuft man Kurt S. aber als Gefahr für die Allgemeinheit ein, müsste man ihn auf längere Zeit in die Psychiatrie einweisen - mit weitaus schwer wiegenderen Konsequenzen, als die Straftat als solche rechtfertigt. Setzt man ihn einfach auf freien Fuß, können die Gutachter die Gefahr nicht ausschließen, dass er in Krisen-Situationen ähnlich oder gar schlimmer reagiert.Urteil in einer Woche

Gericht, Staatsanwaltschaft, Verteidigung und Gutachter ringen lange und mit großem Ernst um eine Lösung, die allen Interessen gerecht wird. Am Ende zeichnet sich ab, dass man ihm mit der Auflage intensiver, nachprüfbarer psychologischer Betreuung die Einweisung in die geschlossene Psychiatrie ersparen wird. Eine Lösung, an der alle mitwirken müssen - vor allem Kurt S. selbst. Eine Lösung, die nicht ohne Vorbereitung zu realisieren ist. Deshalb folgt das Gericht einer Anregung der Gutachter, das Urteil erst in einer Woche zu verkünden. Bis dahin bleibt noch Zeit, einige Weichen zu stellen.

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