Konzert-Projekt: Wie aus Obdachlosigkeit Kunst wird

Der Künstler und Sozialpädagoge Stefan Weiller kommt Ende Oktober mit dem Projekt „Winterreise“ nach Trier. In der Liebfrauen-Basilika werden dann Geschichten von Obdachlosen erzählt – die nicht nur ihn betroffen machen.

 Stefan Weiller und Birgit Kugel feiern mit dem Konzert das 100-jährige Bestehen des Caritasverbandes der Diözese Trier.

Stefan Weiller und Birgit Kugel feiern mit dem Konzert das 100-jährige Bestehen des Caritasverbandes der Diözese Trier.

Foto: Nicole Scharfetter

Es ist die Geschichte einer Frau aus Trier, die Stefan Weiller besonders berührt hat. "Ende 50 wird sie gewesen sein", sagt der Künstler aus Frankfurt. "Vielleicht auch schon über 60." Diese Frau folgte eines Tages einem jungen Paar, das einen Kinderwagen vor sich herschob. "Sie wollte Teil dieser Szene sein, zu der sie so lange gehörte, bis der Vater sich umdrehte und die Frau entdeckte", erzählt Weiller. Für die Frau war es eine Flucht in eine schönere Welt, in der zwei Menschen alles haben, was die Frau nicht hatte. Einen Partner, ein Kind, ein Zuhause.
Diese und 23 weitere Geschichten erzählt Stefan Weiller in einem Musik-Theaterstück, das Ende Oktober in der Liebfrauen-Basilika aufgeführt wird. Der Sozialpädagoge hat mit Wohnungslosen aus der Region gesprochen, aus Trier und Saarbrücken, aus Luxemburg und Koblenz. "Ein Obdachloser in Hamburg hat andere Bedürfnisse und Sehnsüchte als einer an der Mosel", sagt Stefan Weiller. Deswegen fange er in jeder Stadt, wo er auftritt, wieder von vorne an mit den Interviews. In Trier wird das Projekt "Winterreise" zum 28. Mal umgesetzt, gesprochen hat Stefan Weiller inzwischen mit 396 Wohnungslosen.
Untermalt werden die Geschichten von Liedern aus Franz Schuberts "Winterreise". Der Liederzyklus des Komponisten sei namensgebend für das Projekt, "weil er bewegend und befremdlich zugleich ist", erklärt der Künstler, der eng mit dem Caritasverband der Diözese Trier zusammengearbeitet hat. "Ich wollte die Obdachlosen nicht einfach auf der Straße ansprechen. Das gehört sich nicht", findet Weiller. Stattdessen hat er in Einrichtungen der Caritas und mit Hilfe der Mitarbeiter dort die Menschen gefunden, die vom Leben auf der Straße berichten. "Es ist nicht sexy, arm zu sein", sagt der Frankfurter. Deswegen bleiben alle Wohnungslosen anonym. Die meisten nämlich wollen weg von der Straße. "Wer aber in seiner Biografie Obdachlosigkeit stehen hat, dem traut keiner mehr so recht", weiß Weiller. Kein potenzieller Vermieter, kein möglicher Arbeitgeber.
Der "Portavoci"- Chor aus Trier wird die Trierer Winterreise musikalisch unterstützen. "Wir haben drei klassisch ausgebildete Gesangs-Solisten, einen Pianisten und eine Organistin", erzählt der Projektleiter. Die Rundfunk- und Fernsehsprecherin Brigitta Assheuer wird die Gedächtnisprotokolle von Stefan Weiller aus den Gesprächen mit den Obdachlosen lesen.

Anlass: 100 Jahre Caritas

Stefan Weiler kommt mit seinem Kunst-Projekt auf Einladung des Diözesan-Caritasverbandes in die Stadt. Anlass ist das 100-Jahre-Jubiläum, das die Einrichtung feiert. Diözesan-Caritasdirektorin Birgit Kugel sagt: "Ich bin sehr dankbar, dass Stefan Weiller den Schwerpunkt auf die Obdachlosigkeit legt." Wohnungslose seien von Beginn an Kern-Zielgruppe der Caritas gewesen. Das Problem: "Wir haben keine belastbaren Zahlen, weder auf Landes-, noch auf Bundesebene", sagt Kugel. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslose geht davon aus, dass 2014 335 000 Menschen in Deutschland obdachlos waren. "Für 2018 rechnet der Verein mit 200 000 mehr wohnungslosen Menschen", sagt Birgit Kugel. Unter anderem, weil bezahlbarer Wohnraum immer knapper werde, betont Jutta Kirchen, Referentin bei der Caritas. Dazu kämen die Flüchtlinge, die nicht registriert sind, und EU-Bürger, die auf der Suche nach Arbeit auf der Straße landen. Zwar ist Deutschland ein Sozialstaat, keiner muss auf der Straße leben - allerdings können Kirchen, Kugel und Weiller solchen Aussagen nur bedingt zustimmen. "Man muss sich erstmal eingestehen, dass man Hilfe braucht", sagt der Künstler. Manche hätten psychische Probleme oder seien suchtkrank, "vielleicht gar nicht in der Lage, sich Hilfe zu suchen", ergänzt Jutta Kirchen.
So wie die Frau Ende 50. "Sie ist psychisch krank", sagt Kirchen. Und auch wenn sie im Augenblick wieder eine Wohnung hat: "Lange wird sie dort nicht leben, sie hat eine Art Verfolgungswahn", sagt Jutta Kirchen. Manchmal kauft die Frau einfach eine Fahrkarte und beginnt ein neues Leben in einer anderen Stadt. Wieder auf der Straße. Fest steht: Der soziale Abstieg kann schneller kommen, als einem bewusst ist. "Der Weg zurück in die Gesellschaft dagegen ist wahnsinnig schwer", betont Stefan Weiller. Extra

 In der Christuskirche in Koblenz war Stefan Weiller mit seinem Liederzyklus bereits zu Gast. Auch hier wurden Texte von und über Obdachlose zur Musik von Schubert rezitiert.

In der Christuskirche in Koblenz war Stefan Weiller mit seinem Liederzyklus bereits zu Gast. Auch hier wurden Texte von und über Obdachlose zur Musik von Schubert rezitiert.

Foto: Sascha Ditscher (Sascha Ditscher)

Das Projekt: 2009 kam Weiller die Idee zur Winterreise. Als er in Wiesbaden mit einem Obdachlosen sprach, fiel ihm die Musik von Franz Schubert ein. Neben Wohnungslosigkeit thematisiert der Frankfurter auch Themen wie häusliche Gewalt, Armut oder Diskriminierung.
Das Konzert: Die "Trierer Winterreise" wird am Sonntag, 23. Oktober, 17 Uhr, in der Liebfrauen-Basilika aufgeführt. Der Eintritt ist frei. Um Spenden wird gebeten. Das Geld soll an Obdachlosen-Projekte gehen. esc

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