Leidensdruck lastet auf Kindern und Eltern

TRIER. Über den aktuellen Wissensstand und neue Ansätze beim Umgang mit dem Krankheitsbild der Hyperkinetischen Störung (ADS, ADHS) klärte eine Informationsveranstaltung der Kassenärztlichen Vereinigung, der Barmer Ersatzkasse und der Firma Novartis auf. Dass hoher Beratungsbedarf herrscht, signalisierte der überwältigende Publikumszuspruch.

"ADS ist ein Thema, das alle gesellschaftlichen Gruppen berührt. Seine Akzeptanz schwankt zwischen den Polen Mode-Diagnose und Krankheitsbild. Der Leidensdruck lastet auf Kindern und Eltern", sagte der Trierer Kinderarzt Ulrich Henke zur Einführung. Neue Wege zur Minderung müssten in Zusammenarbeit mit allen Beteiligten gefunden werden. Dazu gehöre zunächst eine Änderung der eigenen Einstellung, meinte Grundschullehrerin Martina Hempel, die auch verhaltensauffällige Kinder unterrichtet. "Lehrer sollten Eltern keine Schuld zuweisen, sondern sie beraten, so früh wie möglich die Ursachen klären zu lassen, statt abzublocken und zu verdrängen. Ärzte sollten Rücksprache mit den Lehrern halten." Jeder müsse schauen, an welcher Stelle er den Teufelskreis unterbrechen könne. Diplom-Psychologe Hans-Georg Eisert mahnte zu einer differenzierten Betrachtung des Krankheitsbildes. Der Begriff Aufmerksamkeitsdefizit greife zu kurz, nicht alle bekannten Begleitstörungen gehörten automatisch dazu. Fragebögen erhöben nur allgemeine Symptome. "Weil Eltern nicht gefragt werden, wie ihr Kind in verschiedenen Situationen reagiert, geht unter, dass Verhalten kontextabhängig ist. Die Diagnose gleicht dann undifferenzierter Meinungsforschung." Die Therapie müsse in Alltagssituationen, zum Beispiel bei den Hausaufgaben ansetzen. Alexander Marcus, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Mutterhaus, ergänzte, eine sorgfältige Diagnose und Therapie könnten Betroffene nur von spezialisierten Ärzten erwarten, wie sie sich im Trierer Qualitätszirkel zusammengeschlossen hätten. An hyperkinetischen Störungen litten weltweit 5,6 Prozent der Menschen, besonders häufig Verwandte ersten und zweiten Grades, was auf genetische Veranlagung schließen lasse. Man müsse stärker berücksichtigen, dass viele Erwachsene betroffen und deshalb häufig arbeitsunfähig seien. Die bislang nur bei Kindern angewandte wirksamste Behandlung sei die Kombination aus Stimulanzien und Verhaltenstherapie. "Es sind neue Wirkstoffe auf dem Markt, aber der am besten erforschte ist Methylphenidat. Wir kennen die Wirkung sehr genau. Es macht nicht süchtig, da es viel zu langsam im Hirn ankommt, um ein Rauschgefühl zu verursachen. Vielmehr reduziert es sogar die bei ADS-Patienten erhöhte Suchtbereitschaft." Gertraude Fydrich, Vorsitzende des Bundesverbands "Aufmerksamkeitsstörung/Hyperaktivität" kritisierte in diesem Zusammenhang tendenziöse und emotionalisierende Medienberichte, forderte eine Versachlichung der Diskussion, mehr Verständnis für die Krankheit und eine stärkere Einbindung der Selbsthilfeorganisationen. Zu einem neuen Weg gehöre die Medikation von Pubertierenden und Erwachsenen, regte Gerlinde Piepenhagen vom medizinischen Dienst an.

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