Malstube mit Kundenkontakt

BIEWER. Ein ehemaliger Lotto-Laden in der Biewerer Straße ist seit zwei Wochen das offene Atelier einer Hobbymalerin. "Casa colore" nennt Hannelore Herrmann-Reis das Erdgeschoss ihres Elternhauses, das sie liebevoll restauriert hat.

Vor nicht allzu langer Zeit war der heute vom Durchgangsverkehr nach Trier belastete Stadtteil Biewer noch ein kleines Dorf, in dem sich an fast jedem Haus ein Misthaufen fand und eine Scheune im Hof stand. Das älteste Haus in Biewer - so erzählt man sich heute - sei ein kleines Gebäude an der heutigen Bundesstraße 53, das nun die Hausnummer 99 trägt. Mit Misthaufen und Toilette im Hof wuchs auch die 1942 geborene Hannelore Herrmann-Reis auf, die noch heute alle in Biewer "Lörchen" nennen. Ihr Großvater züchtete auf dem Bauernhof in der Biewerer Straße Schweine und Truthähne und baute Pfirsiche, Mirabellen und Zwetschgen für den Verkauf an. Für die Eltern von "Lörchen" war später die Landwirtschaft keine Perspektive mehr, und sie bauten die Scheune zum Wohnhaus um. Das ehemalige Wohnzimmer und die Küche der Großeltern im Erdgeschoss des zur Straße liegenden Vorderhauses vermieteten sie als Lotto-Annahmestelle.Statt zur Post heimlich ins Kaufhaus

Tochter Hannelore sollte Postbeamtin werden. Doch das Mädchen sträubte sich dagegen und suchte sich heimlich eine Lehrstelle - als Schaufensterdekorateurin. Von morgens bis abends war sie im Kaufhaus Horten auf Achse, suchte für die neuen Schaufensterpuppen die schönsten Teile zusammen, und dabei stand auch der Mund nicht still. Doch dann zog ihr Körper eines Tages die Notbremse: "Panikattacken", lautete die Diagnose. Aus gesundheitlichen Gründen musste sie ihren Beruf aufgeben. "Als ich eines Tages Filzstifte in die Hände bekam, versank ich richtig in das Malen", erzählt Hannelore Herrmann-Reis: "Es beruhigte mich." Seitenweise malte sie fröhliche Clowns, romantische Blüten und schöne Frauengesichter. Fast schon vergessen hatte sie, dass sie in der Grundschule als die "beste Malerin" bekannt war. Über Kurse fand sie mit Ende 40 wieder zur Malerei und entwickelte neue Techniken und Themen. Das Malen wurde für sie zu einem täglichen Mittel, um zur Ruhe zu kommen. In einer kleinen Kammer richtete sie ihre Malstube ein. "Abmalen" nennt sie selbst ihre Malerei; "dekorative Bilder" das Ergebnis. Als die Inhaberin der Lotto-Annahmestelle ihren Laden aufgab, erfüllte sie sich ihren Traum: Ein Atelier mit "Kundenkontakt". Sie ging ans Werk und riss die Rigips-Platten, mit denen die schiefen Wände, Fenster- und Tür-Nischen des Altbaus begradigt worden waren, herunter. Lehm und Stroh kamen zum Vorschein - Material, mit denen früher Häuser gebaut wurden. Da war ich ganz ergriffen von dem Gedanken, dass meine Vorfahren das hier gebaut haben. Ich merkte, was Heimat für mich bedeutet." Sie forschte nach und erfuhr, dass das Haus im Jahr 1750 gebaut wurde.Von der Höhle zur "Casa colore"

"Dunkel und muffig wie eine Höhle" hätte der Lotto-Laden gewirkt. Nachdem die alte Decke, die Wände und Böden restauriert waren, kam für die Hobbymalerin eine "Casa colore" zum Vorschein. Dass ihr in ihrem auf diesen Namen getauften Atelier nun jeder durch das breite Fenster über die Schulter blicken kann, stört die ehemalige Schaufensterdekorateurin nicht im Geringsten. Anders als in ihrer früheren Malstube gibt es hier die Passanten, die "Lörchen" durchs Fenster zuwinken oder die zu einem kurzen Plausch herein kommen. Wieder zu ihrem Wert verhelfen will Hannelore Herrmann auch der Fassade des ältesten Hauses in Biewer. Ihre Wunschfarbe für den Anstrich: Terracotta.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort