Nachholen, was sie verpasst hat

IRSCH. Die Arbeit in der Gaststätte Wollscheid und im elterlichen Bauernhof war ihr Leben. Doch vor zwei Jahren stellte Hildegard Dittmer fest: Es geht nicht mehr und ging in den Ruhestand. Nachdem sie ihre Gaststätte verpachtet hatte, schöpft Hildegard Dittmer jetzt neue Kraft.

"Ich habe Nachholbedarf", sagt Hildegard Dittmer und wirft den Kopf zurück. Sie sprühe voller Ideen, was sie alles machen möchte. Auf "ein Leben voller Arbeit" blicke sie zurück, erzählt sie weiter. Denn das war sie von Kindesbeinen an gewohnt. Kurz nach ihrer Geburt im Jahr 1937 eröffnen ihre Eltern die erste und einzige Irscher Gaststätte mit großem Saal. Tochter Hildegard serviert als junges Mädchen den eigenen Viez der Familie oder die Brote mit Schinken aus eigener Schlachtung und packt im Kuhstall und auf dem Feld des elterlichen Betriebs mit an. Später übernimmt sie die Gaststätte, in der ihre Mutter weiter mitarbeitet. Die Gäste schätzen die offene und kontaktfreudige Art der Wirtin. Doch dann kommt alles anders: Gerade von einer schweren Krankheit genesen, will Hildegard Dittmer mit ihrem Ehemann verreisen. Dazu kommt es nicht: Beim Überqueren von Gleisen wird ihr Mann von einem Zug erfasst und stirbt, sie entkommt dem Unglück knapp. Zum Erstaunen der Gäste stellt Hildegard Dittmer sich danach - "freundlich wie man in der Wirtschaft ist" - weiter hinter den Tresen in ihrer Gaststätte. "In dieser Zeit konnte ich nicht trauern und war in der Öffentlichkeit immer freundlich und fröhlich", erinnert sich Hildegard Dittmer, deren Gesicht beim Erzählen mal vor Freude strahlt, mal von Trauer gezeichnet ist. Vor zwei Jahren trifft sie die Entscheidung, aufzuhören und die Gaststätte zu verpachten. "Als ich zum letzten Mal als Wirtin die Tür zur Gaststätte verschloss, war ich erleichtert", erzählt sie. Es dauert noch ein Jahr, bis sie mit der Trauerarbeit und der Verarbeitung des traumatischen Erlebnisses beginnen kann. Inzwischen genießt sie das Leben fern der Arbeit. Statt von früh bis spät zu arbeiten, nimmt sie sich Zeit für sich, lässt bei einem Stadtbummel oder einem Sauna-Besuch die Seele baumeln und tankt neue Kraft. Wohin sie auch geht, die ehemalige Wirtin kann sicher sein, jemanden zu treffen, der sie kennt oder den sie aus ihrer Zeit als Wirtin des Gasthauses Wollscheid kennt, mit dem sie sich wie damals entweder in Irscher Platt oder auf Hochdeutsch in interessante Gespräche vertieft. Gerne schwingt sich Hildegard Dittmer auch mit Freundinnen aufs Fahrrad und radelt an Mosel oder Saar entlang. Sie entgeht inzwischen sogar dem Trubel in Irsch, wenn sich beim Karnevalsumzug vor der Gaststätte Wollscheid eine große Menschenmenge versammelt. Da verreist sie lieber in den Süden oder in schöne Regionen in Deutschland. In den Jahren zuvor stieg sie mit großer Freude an Karneval in die Bütt. Umgesetzt hat sie ihren lang gehegten Wunsch, eine schöne Gartenanlage zu gestalten. Zurück in "ihre" alte Gaststätte kommt sie dennoch regelmäßig, um sich mit Freundinnen aus der Gymnastikgruppe, der Frauengemeinschaft oder dem Kegelclub zu treffen. Denn sie sagt voller Überzeugung: "Aus Irsch möchte ich einfach nicht weg."

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