Rendezvous mit der schönen Teufelin

ST. MORITZ/CELERINA. St. Moritz ist der Wintersportort der Schönen und der Reichen. Doch nur wenige hundert Meter entfernt bietet das Dorf Celerina ursprünglichen Charme. Von der herrlichen Landschaft, den vielen touristischen Attraktionen und den kulinarischen Verführungen profitieren die Gäste hier wie dort.

Eine wunderschöne Bergfee lebte der Sage nach einst an den Höhen von Piz Palü und Piz Bernina. Immer wieder pflegte die begehrenswerte Frau über die weißen Flanken zu wandeln, an deren Fuß sich ein mächtiger Gletscher durch das Hochtal wälzt. Um sie zu sehen, wagten sich also viele junge Männer hinauf in die hochalpine Welt. Viele von ihnen bezahlten dieses Abenteuer mit dem Leben. Auch Aratsch, der jener Fee aber so gut gefallen hatte, dass ihr nächtliches Wehklagen (Mort ais Aratsch = Aratsch ist tot) dem Gletscher seinen Namen gab: Morteratsch.Versuchung auf 3000 Metern

Ob es die schöne Teufelin wirklich gegeben hat? Wer auf der Sonnenterrasse des 3000 Meter hoch gelegenen Berghauses Diavolezza entspannt, kommt unweigerlich darüber ins Grübeln. Doch auch ohne den Lockruf dieses Supermodels der Frühzeit dürfte das grandiose Panorama der höchsten Gipfel der Ostalpen schon vor mehr als 100 Jahren auf abenteuerlustige Naturburschen eine magisch-tragische Anziehungskraft ausgeübt haben. Heute lassen sich die vielen Höhenmeter vom "Tal" zum Diavolezza-Grat per Großgondel schneller, vor allem aber sicherer überwinden. Am Ausblick ändert das nichts: Atem raubend. Wer sich dann auch noch überwindet, die Skikleidung gegen eine Badehose zu wechseln und in den höchst gelegenen Jacuzzi Europas steigt, der muss dem Ruf der schönen Teufelin erliegen... Versuchungen gibt es im Oberengadin wahrlich reichlich. Nicht nur der Geldadel im mondänen St. Moritz weiß das zu schätzen. Begonnen hatte hier die touristische Erschließung vor genau 100 Jahren, als die erste Bergbahn Graubündens auf den 2435 Meter hohen "Muottas Muragl" gebaut wurde. Bis heute bringt die Standseilbahn Einheimische und Touristen auf den Berg, der die schönste Aussicht auf die Dörfer im Oberengadin und die Engadiner Seenplatte bietet. Die beiden Schlepplifte dort oben wurden zwar im letzten Winter still gelegt. Dafür steigen umso mehr Wanderer und Schlittenfahrer in die roten Bahnwaggons. Der 5,5 Kilometer lange Philosophenweg am Muragl ist einer der schönsten des 150 Kilometer umfassenden Angebots von Winterwanderwegen der Region. Und mit mehr als vier Kilometern Länge und einer Höhendifferenz von 705 Metern verspricht die Schlittenbahn rasanten Nervenkitzel. "Für dieses winzige Skigebiet wären die Kosten für die Erneuerung der beiden Lifte zu groß gewesen", sagt Dieter Bogner. Der Geschäftsleiter der Bergbahnen Engadin/St. Moritz muss Prioritäten setzen. Denn zwar gehört die Region mit ihren 57 Luftseil-, Gondel-, Standseilbahnen, Sessel- und Bügelliften zu den großen Skiregionen in den Alpen. Dennoch befinden sich nicht alle Anlagen, die 88 präparierte Abfahrten mit insgesamt 350 Pistenkilometern erschließen, auf neuestem technischen Stand. Sechser- oder gar Achter-Sessellifte findet man hier noch nicht. "In Österreich wird der Bau von Seilbahnen vom Staat gefördert", blickt Bogner nicht ganz ohne Neid ins Nachbarland. "Das gibt es in der Schweiz leider nicht." Viel wird auch in den kommenden Jahren investiert. Umso wichtiger ist eine enge Kooperation der 15 Bergbahnunternehmen, die sich den Umsatz aus den jährlich bis zu 17 Millionen Gästefahrten teilen. Je nach fahrerischem Können und Vorlieben haben die Skifahrer und Snowboarder die Qual der Wahl zwischen vier Skigebieten, die per Bus verbunden sind. Diavolezza und Lagalb - beide mit wenigen, aber langen und steilen Pisten sowie vielen Möglichkeiten fürs Variantenfahren - sowie Corviglia-Marguns und Corvatsch-Furtschellas. Am beliebtesten ist ohne Zweifel Corviglia-Marguns. Der "Hausberg" von St. Moritz und dem weniger mondänen Celerina mit seinen 29 Pisten bietet überwiegend leichte und mittelschwere Abfahrten. Vor allem versprechen die gen Süden geneigten Hänge aber Skigenuss in der Sonne. Das 1720 Meter hoch gelegene Celerina wirbt mit durchschnittlich 1800 Sonnenstunden im Jahr.1800 Sonnenstunden im Jahr

Warum trotz der Sonne und vergleichsweise milder Temperaturen wie in diesem Winter der Schnee verblüffend gut ist, weiß Dieter Bogner: "Wir haben hier eine sehr geringe Luftfeuchtigkeit. Das sorgt zudem dafür, dass auch unsere beschneiten Pisten stets in einem guten Zustand sind." Insgesamt 70 Kilometer können mechanisch beschneit werden. Von "Kunstschnee" will Bogner freilich nicht reden. Denn Chemikalien kämen im Oberengadin auch dann nicht zum Einsatz, wenn dem Winter per Schneekanonen auf die Sprünge geholfen werden muss. Und dies wird angesichts der dramatischen Klimaveränderungen in den kommenden Jahrzehnten wohl immer häufiger notwendig sein. "In 30 Jahren wird es keine Skigebiete unter 1500 Metern mehr geben", ist sich der Bergbahn-Geschäftsführer sicher. Billiger wird der Skisport dadurch nicht. Zumindest das verunsichert im Oberengadin aber niemanden. Denn der klassische Billig-Ski-Tourist findet dort schon jetzt kein allzu großes Angebot, wenn auch neue Hotellerie-Konzepte wie das des "All in One Hotels Inn Lodge" in Celerina Kontrapunkte setzen. Die Jugendgruppen, die hier einchecken, werden mit Sicherheit auch das zweite große Skigebiet der Region ansteuern: Corvatsch-Furtschellas, das Dorado für die anspruchsvollen Boarder und Carver. Ein Erlebnis der besonderen Art sind dabei an jedem Freitag die Nachtskifahrten. Ab 19 Uhr bis tief weit nach Mitternacht bittet eine fast fünf Kilometer lange beleuchtete, herrlich präparierte Piste zur Adrenalin-Ausschüttung. Nur bei Tageslicht zu empfehlen, dafür legendär, ist die zehn Kilometer lange Abfahrt aus 3303 Meter Höhe über den Corvatsch-Gletscher. Wenn allerdings wie in dieser Saison im Herbst zu wenig Schnee fällt, bleibt der Gletscher für Skifahrer gesperrt. "Das wäre viel zu gefährlich", sagt Dieter Bogner und berichtet von Überlegungen, irgendwann sogar den problematischen Gletscherbruch zu beschneien. So spart sich in diesem Winter der sportliche Skifahrer vielleicht ein wenig den Atem und nutzt die Zeit zu einem mittäglichen Einkehrschwung in eines der erstklassigen Bergrestaurants. Jedes von ihnen gewinnt um Längen den Vergleich mit den kulinarischen Abfüllstationen in Österreich oder Frankreich. Ein Geheimtipp ist der "Kuhstall" am Furtschellas. Im Sommer stehen in dieser Alm tatsächlich Kühe. Vor einigen Jahren kam der schlaue Besitzer dann auf die Idee, den Stall nach dem Almabtrieb auszuräumen, gründlich zu reinigen und als Gasthaus zu nutzen. Der Erfolg ist riesig, auch wegen der grandiosen Küche. Kulinarische Köstlichkeiten

Nun ließen sich über die kulinarischen Versuchungen in der Schweiz alleine Bücher schreiben (das allgegenwärtige Bündnerfleisch wäre dabei nur eine Fußnote). Doch das ist hier nicht das Hauptthema. Nur so viel: Nach einigen Tagen im Oberengadin wächst unweigerlich das Verständnis für jene Eidgenossen, die nach einem sportlichen Vormittag den Ski-Tag mit gutem Essen, dem ein oder anderen leckeren Schweizer Wein und in "Piz-Buin-Stellung" ausklingen lassen. Genuss pur. Und wer schon einmal dort war, der wird sich an einem solchen Nachmittag auch wieder auf ein Rendezvous mit der schönen Teufelin einlassen. Der Whirlpool auf der Terrasse des Gasthauses Diavolezza lockt mit wohligen 35 Grad - auch bei 25 Grad minus.

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