Seitenwechsel im Ödipus-Spiel

TRIER. Einen Seitenwechsel der spannenden Art bietet derzeit das Theater Trier. Wer die Antikenfestspiele einmal aus Schauspieler-Perspektive miterleben will, dem bietet sich jetzt die Gelegenheit. Denn König Ödipus braucht Verstärkung. Erwachsene aller Altersklassen und jeglichen Temperaments werden den Part des Chores unterstützen.

 Unübersehbar: Der Berliner Regisseur Horst Ruprecht (rechts) sitzt inmitten der Ödipus-Statisten in spe, die das Volk Thebens verkörpern werden. TV-Foto: Melanie Wollscheid

Unübersehbar: Der Berliner Regisseur Horst Ruprecht (rechts) sitzt inmitten der Ödipus-Statisten in spe, die das Volk Thebens verkörpern werden. TV-Foto: Melanie Wollscheid

"Wo wir wanken, atmen wir den Tod - Und wir sind jung. - Hilf uns, König!", fleht der junge Mann mit beeindruckender Intonation. Schließt man die Augen und übersieht seinen schicken Anzug mit Krawatte, könnte man glauben, er ränge tatsächlich mit dem lebensgefährlichen Pest-Virus, der 425 vor Christus wütete. Doch wir sind nicht in Theben, sondern in den Theaterkatakomben am Augustinerhof. "Ja! Sehr gut", lobt Heribert Schmitt, Inspizient und Leiter der Statisterie, den Bewerber. Dass dieser nicht zum ersten Mal Bühnenluft atmet, hört man und bestätigt sich spätestens dann, als man sich mit Namen anspricht. Man kennt sich in der theateraffinen Welt. Es ist beinahe wie ein kleines Familientreffen, wenn Heribert Schmitt anlässlich des ersten Statistencastings am Bühneneingang auf seine spielfreudigen Schäfchen wartet. Seinen herzlichen Hallos schließt sich ein ganzes Namenspotpourri an. Es scheint, als mache Statisterie ein bisschen süchtig, denn bis auf eine Ausnahme sind alle Gesichter der Runde alte Bekannte. "Ich fand es so klasse, als ich Lilly hab spielen sehen, und da bin ich nun einfach spontan mitgekommen", erzählt eine Gymnasiastin. Dass sie auch dem typischen Trierer Bekanntheitsphänomen erliegt, lässt sie schmunzeln: Ihre Tante hat gemeinsam mit Heribert Schmitt die Schulbank gedrückt. Nicht minder bekannt in Trier ist Horst Ruprecht. Derzeit gibt er in Max Frischs "Andorra" den Präsidenten des kleinen Staates. Im Sommer wird er die Bühne gegen den Regisseurstuhl tauschen. "Im Grunde ist Ödipus der erste große Kriminalfall der Menschheitsgeschichte", macht der Mann mit den markanten Augenbrauen Lust auf die weitere Handlung der Tragödie. "Vermutlich wird sich die Version des Stücks an Hugo von Hoffmansthal orientieren", überlegt er. Doch bis zur Premiere am 30. Juni wird es noch Veränderungen geben. Dass Regie weit mehr als das schauspielerische Geschehen koordiniert, erwähnt der Berliner beiläufig in einem Nebensatz: "Ich komme gerade von einer Spinnstunde mit Valentiny." François Valentiny wird dafür sorgen, dass sich auch die Perspektive der Schauspieler verändern wird. Erstmals werden sie die Zuschauer auf den Rängen und nicht in der Arena des Amphitheaters unterhalten. Und wer keine Lust auf Hartplastik-Sitzschalen hat, der wendet sich über das Theater Trier an Heribert Schmitt. Angst vor niederschmetternden Beurteilungen muss niemand haben. Denn das Casting verläuft herzlich und endet mit dem erfreulichen Fazit: "Alle engagiert!"

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