Sensibler und toleranter geworden

TRIER. Die Arbeit mit Menschen, denen es viel schlechter geht als einem selbst, kann junge Schulabgänger beim Erwachsen-Werden prägen. Unser Mitarbeiter hat zehn Monate als Zivildienstleistender in der Tagesförderstätte des Club Aktiv für körperbehinderte Menschen gedient. Hier schildert er, was ihn in dieser Zeit bewegte und wie sich seine Sicht der Dinge wandelte.

Meine Entscheidung, den Wehrdienst zu verweigern und stattdessen Zivildienst abzuleisten, habe ich damals nicht aus Überzeugung getroffen. Als ich im Frühjahr 2003 mein Abitur gemacht habe, war ich noch ein entschiedener Gegner der Wehrpflicht. Ich hielt sie für Zeitverschwendung, da ich in diesen zehn Monaten schon hätte studieren können. Zudem fand ich es unzeitgemäß und ungerechtfertigt, vom Staat zu einem Dienst gezwungen zu werden. Also wählte ich den Zivildienst, weil er für mich das geringere Übel darstellte, da ich freier über meine Zeit verfügen konnte.Abiturient ohne Motivation

Zu meiner Dienststelle, der Tagesförderstätte des Club Aktiv für körperbehinderte Menschen, kam ich frisch gebackener Abiturient ohne die Motivation, mehr Einsatz zu zeigen, als von mir verlangt wurde.Was nimmt ein junger Mensch an Lebenserfahrung mit aus der Schule? Wenn nicht ein ihm nahe stehender Mensch von Schicksalsschlägen getroffen wurde, wird es damit wohl nicht weit her sein. Auch ich war einer dieser Unerfahrenen. Eine einschneidende Umstellung war für mich, dass von heute auf morgen die meisten meiner Mitmenschen das Gehen nicht mehr beherrschten. Sie waren auf das Synonym für Behinderung schlechthin angewiesen.Der Rollstuhl sagt viel über den Seelenzustand des Menschen aus, dem er als Hilfsmittel dient. Es gibt Menschen, die mit großem Willen und Ehrgeiz daran arbeiten, sich ohne fremde Hilfe allein fortbewegen zu können. Es gibt andere, die angesichts ihres Schicksals resigniert haben, die nicht mehr wollen, denen der Rollstuhl zum unbeweglichen Zeichen ihrer Ohnmacht geworden ist.Und dann gibt es die, auf deren innere Einstellung es gar nicht erst ankommt, weil sie hilflos zusehen müssen, was um sie herum geschieht. Ihre Arme und Beine schaffen es nicht, sich mit dem Rollstuhl zu bewegen.Während meines Dienstes habe ich ergreifende persönliche Schicksale kennen gelernt. Da ist der fürsorgliche Vater, Ehemann und gute Kollege, der einen Schlaganfall erleidet. Sein glückliches Leben wird zu einem sinnleeren, da sein Charakter durch die Krankheit völlig wechselt. Er kann nicht mehr arbeiten und soziale Kontakte pflegen. Oft cholerisch und aggressiv, trennt sich seine Familie von ihm. Wenn ich den Mann in stillen Momenten nach seiner Frau weinen sehe, geht das mir sehr nahe.Da ist die junge Mutter, deren Glück eigentlich nichts mehr im Weg gestanden hätte. Doch ein Hirnschlag fesselt sie an den Rollstuhl. Ein Ziel schwebt ihr fortan vor Augen: Sie will für ihr Kind da sein. Mit diesem Antrieb meistert sie Hürde um Hürde, sie beherrscht das Gehen wieder, lernt sprechen und kann mehr und mehr für ihr Kind sorgen. Ich erkenne, dass jedes einzelne Schicksal zum Zerreißen ist, ungerecht, unverdient und dennoch unabwendbar.Mir prägt sich der müde und erschlaffte Mann ein, der zäh die Räder seines Rollstuhls bewegt. Ich kann ihm helfen, ihn fördern, doch letztlich kann ich nichts ändern - nein. Ich weiß, dass sein Kampf vergeblich ist, da sich sein Gesundheitszustand weiter verschlechtern wird.Jetzt, am Ende meines Dienstes, betrachte ich vieles aus einem anderen Blickwinkel als zuvor. Ich blicke auf eine wertvolle und kostbare Zeit zurück. Ich habe an Einfühlungsvermögen dazugewonnen, bin sensibler und toleranter geworden. Einst ein radikaler Gegner der Wehrpflicht, stelle ich nun fest, dass meine Arbeit mir persönlich vielleicht am meisten gebracht hat.

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