TV-Serie Raus! Geschichten vom Aussteigen: Genug Liebe für mehrere Partner (Multimedia-Reportage)

Trier · In den 68ern wurde die freie Liebe von jugendlichen Aussteigern propagiert. Das Konzept ist mit dem Ende der Hippie-Ära nicht verschwunden. Wir haben zwei Menschen getroffen, für die Liebe nicht auf einen Partner begrenzt sein muss.

 Ein Leben für die Liebe: Nelly Stockburger schloss sich nach einer kurzen Ehe der jugendlichen Aussteigerszene der 70er-Jahre an. Später zog sie in eine Kommune in der Trierer Feldstraße. Heute lebt sie in Trier-Ehrang.

Ein Leben für die Liebe: Nelly Stockburger schloss sich nach einer kurzen Ehe der jugendlichen Aussteigerszene der 70er-Jahre an. Später zog sie in eine Kommune in der Trierer Feldstraße. Heute lebt sie in Trier-Ehrang.

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 Nelly Stockburger

Nelly Stockburger

Foto: Nathalie Hartl
 Gemeinsames Glücksgefühl: Liebe und Partnerschaft sind Themen, die Nelly Stockburger sowohl beruflich als auch privat immer beschäftigt haben.

Gemeinsames Glücksgefühl: Liebe und Partnerschaft sind Themen, die Nelly Stockburger sowohl beruflich als auch privat immer beschäftigt haben.

Foto: Privat

Wenn eine neue Liebe ins Leben tritt, ist das häufig ein Trennungsgrund. Anders ist das bei Menschen, die nicht monogam leben. Für sie ist es vorstellbar, mehrere Beziehungen gleichzeitig zu führen. Sowohl Nelly Stockburger als auch Jan Anderson* haben sich von dem Konzept der exklusiven Zweisamkeit verabschiedet.

"Ich würde nie in die Kneipe um die Ecke gehen, einen Mann anstupsen und fragen, ob er Sex haben möchte", sagt Nelly Stockburger. Die ehemalige Sexualtherapeutin lebt - anders als die meisten Deutschen - nicht monogam. Für sie ist es in Ordnung, mehrere Partner zu lieben und mit ihnen "gleichberechtigte erotische Beziehungen" zu pflegen. "Ich denke nicht, dass man ein territoriales Recht auf einen Menschen hat", sagt Stockburger. Keiner soll den Körper eines anderen besitzen.

Multimedia-Reportage zur Serie

Auch Jan Anderson sieht sich als Aussteiger aus der klassischen monogamen Beziehung, in der es nur Platz für zwei gibt. Seine Freundin und er sind offen für weitere Partner. "Ich habe erst neulich mit jemandem geflirtet und hoffe, dass etwas daraus wird", sagt Anderson. Seine feste Partnerin wisse selbstverständlich davon.

Nelly Stockburger wohnt in Trier-Ehrang. Ihr Haus ist von dichtem Grün umgeben. Man kann keine zehn Meter gehen, ohne einer kuscheligen Laube im Gehölz zu begegnen. Inmitten des verwunschenen Gartens steht ein Haus mit geöffneter Tür. Von den Wänden herab lächeln schwarz-weiße und bunte Gesichter die Besucher an. Manche der auf Film gebannten Gestalten tragen Kleider, andere sind nackt.

Die Fotos erinnern an die zahlreichen Stationen in Stockburgers Leben, die auch für die Sichtweise der Wahltriererin auf Partnerschaft und Liebe prägend waren. Bereits mit 18 Jahren ging sie eine Ehe ein. "Früher haben viele ihren Freund geheiratet, wenn sie schwanger geworden sind, weil die Gesellschaft das so wollte." Mit 19 Jahren wurde Stockburger zum ersten Mal Mutter. In dem konservativen Umfeld, das sie umgab, fühlte sie sich nie wohl.

Anderson sitzt in seinem Wohnzimmer an einem langen Tisch. Er erinnert sich noch genau an eine Geburtstagsfeier vor wenigen Wochen. Seine Freundin hatte dazu einen Mann eingeladen, mit dem sie kurz zuvor etwas angefangen hatte. Anderson wusste Bescheid. Als der Fremde sich an den Tisch setzte und sich angeregt mit seiner Freundin unterhielt, ertappte er sich dabei, wie er nervös und schließlich wütend wurde: "Ich konnte die Eifersucht nicht abschalten." Im Laufe des Abends habe sich das gelegt. "Ich bin einfach noch in dieser Denke von früher drin, dass man zusammen ist und es keine anderen daneben geben darf." Dabei sei es durchaus möglich, zusätzliche Personen zu lieben, ohne dass die Zuneigung zum bestehenden Partner dadurch geschmälert würde. "Meine Gefühle müssen noch lernen, was mein Kopf weiß." Anderson will an seiner Eifersucht arbeiten.

Dass wahre Liebe sexuelle Treue voraussetzt, hält auch Stockburger für einen Mythos. Nachdem ihre junge Ehe ein rasches Ende fand, wandte sich die Triererin einer revolutionären Jugendkultur zu und lernte verschiedene Modelle freier Liebe kennen. Die "Straßenanarchos im Palastgarten" der 70er-Jahre waren langhaarige "Querulanten", die die bürgerliche Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg durcheinanderbringen wollten. Dabei machten sie auch vor Liebe und Sex keinen Halt. Stockburger nennt sie Aussteiger, da viele von ihnen von ihren Eltern herausgeworfen wurden und sie es schwer hatten, in der bürgerlichen Welt Fuß zu fassen. In der Feldstraße entstand eine Kommune, in die die damals schon vierfache Mutter einzog. Hier lebte und liebte sie. Später zog sie in das Haus in Trier-Ehrang, in dem sie noch heute wohnt.

Anderson wuchs nicht in der Hippie-Ära auf und lebte nie in einer Kommune. Die meiste Zeit seines Lebens war er monogam. Auch in seiner aktuellen Beziehung änderte sich daran lange nichts. Eines Tages kam sie auf ihn zu. Die tragischen drei Worte, die in keinem Romantik-Drama fehlen: "Wir müssen reden." Sie hatte einen anderen Mann kennengelernt und wollte zu ihm eine engere Beziehung aufbauen - ohne Anderson vor den Kopf zu stoßen und das, was sie aufgebaut hatten, in Gefahr zu bringen. Im Dialog einigte man sich darauf, die Beziehung zu öffnen. "Ehrlichkeit ist uns enorm wichtig." Wenn Andersons Freundin zu ihrem Liebhaber fährt, weiß er genau, dass sie auch Zärtlichkeiten austauschen und miteinander schlafen. "Mich stört das nur, wenn ich einen schlechten Tag habe und ohnehin unsicher bin. Dann nagt es richtig an meinem Selbstwert", sagt der junge Mann. "Was bietet er, was ich nicht bieten kann?" Anderson blinzelt, lässt den Blick ein paar Sekunden durch das Wohnzimmer schweifen und lacht schließlich. "Aber das wäre ja illusorisch, dass ein Mensch alle Facetten abdecken kann." Er und seine Freundin sprechen oft über die Herausforderungen, die mit der polyamoren Partnerschaft einhergehen.

Auch Stockburger pflegt eine offene Diskussionskultur: "Jeder hat das Recht zu wissen, woran er ist. Jeder, der bisher mit mir ins Bett wollte, wusste wer ich bin." Ihre Erfahrungen bringt Stockburger, die auch einen autobiografischen Roman verfasst hat, heute in einem polyamoren Netzwerk (siehe Info) ein. Zweimal hat sie bisher an den mehrtägigen Treffen teilgenommen, bei denen sich Gleichgesinnte begegnen können. "Anders als früher sind das keine Rebellen und keine Aussteiger. Außerdem gibt es keine Ideologie." Das Niveau bei den Gesprächrunden sei hoch und es finde eine "bewusste Auseinandersetzung" mit dem Thema Liebe statt. Dabei seien auch Psychologen und Pädagogen vor Ort. "Die, die regelmäßig kommen, können sicherlich auch einen Partner finden, der zu ihrer Lebenssituation passt."

Sowohl Stockburger als auch Anderson wünschen sich eine größere Akzeptanz von Beziehungsformen abseits der Monogamie. Während Stockburger öffentlich Position bezieht und dafür bereits angefeindet wurde, hält sich Anderson bisher bedeckt. "Ich will mir das Gerede ersparen."

Drei Fragen an einen Aussteiger
Wie tickt jemand, der eine Welt verlässt und in eine neue eintritt? Der TV stellt den Aussteigern der Serie Raus!drei Fragen:
Was würden Sie tun, wenn Sie 50 Euro auf der Straße finden würden?
Nelly Stockburger: Ich würde denken: "Das Leben liebt mich - den kann ich gebrauchen." Wenn ich einen Geldbeutel finden würde, würde ich ihn allerdings zum Fundbüro bringen.
Was würden Sie tun, wenn Sie einen Tag lang König von Deutschland wären?
Stockburger: Darauf hätte ich gar keine Lust. Ich würde versuchen, so zu tricksen, dass der Tag nicht kommt.

Was soll auf Ihrem Grabstein stehen?
Stockburger: Ich habe mir schon einen Baum ausgesucht, und darauf darf man nichts schreiben. Auf eine Plakette würde ich aber drucken lassen: "Sie hat ihr Leben für die Liebe gelebt."

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