Taschentuch als Markenzeichen

KERNSCHEID. Im kleinen Höhenstadtteil scheint die Welt noch in Ordnung zu sein. Fünf Bauern bewirtschaften dort ihre Höfe. Einer von ihnen ist Erwin Morgen. Es gibt nichts, was ihn bewegen könnte, Kernscheid zu verlassen. In das Dorf hat der in Filsch geborene Bauerssohn vor mehr als einem halben Jahrhundert eingeheiratet und feiert am 28. Oktober seinen 80. Geburtstag.

Kernscheid ist noch ein Dorf, trotz der Nähe zur Stadt. Trecker fahren gemächlich durch die Straßen, es gibt dampfenden Mist vor den Ställen und gesunde, würzig duftende Landluft, die die Nase umweht. Der Hof von Erwin Morgen liegt wenige Schritte vom Mittelpunkt des Orts entfernt in der Nähe der Kirche. Das alte Bauernhaus kündet von Generationen, die das Land auf der Kernscheider Höhe bewirtschaftet haben. Einen Tag, an dem Erwin Morgen nicht auf seinem "Schlepper" sitzt und eine Runde durch den Ort und über sein Land dreht, gibt es nicht. Jeder im Dorf wüsste sofort, dass irgendetwas mit Bauer Morgen nicht stimmt, wenn man ihn nicht auf dem tuckernden Traktor sieht. Harte Jahre in Gefangenschaft

Bis heute arbeitet er in seinem Betrieb, den der jüngere seiner Söhne - Erwin Morgen hat drei Kinder - übernehmen wird. Seit seiner Heirat im Mai 1952 ist Erwin Morgen Kernscheider, züchtet auf seinem Hof Milchvieh, Ammenkühe und Limousin-Rinder. Bis 1991 gehörten dem Landwirt auch noch einige Weinberge. Eigentlich wollte Morgen Metzger werden, aber den heute 80-Jährigen erwartete ein anderes Schicksal wie viele andere Gleichaltrige: 1943 wurde er als 17-jähriger Junge wie seine drei Brüder zum Militär eingezogen und musste als Soldat in den Krieg ziehen, im Russlandfeldzug und später im Kampf gegen italienische Partisanen um Leib und Leben fürchten. Wie es seiner Mutter und den zwei Schwestern in Filsch erging, erfuhr er erst in amerikanischer Kriegsgefangenschaft von einem Mithäftling. Harte Jahre waren das für Erwin Morgen, der in erschreckenden l Bildern von seinen Erlebnissen, der Schiffspassage nach Virginia, der harten Arbeit auf Farmern in Montana und der Überführung nach Kalifornien zu berichten weiß. Dort musste er bei brütender Hitze in den Baumwollplantagen "schaffen, um zu überleben und etwas zu futtern zu kriegen. Fünf Jahre habe ich für die Katz geschafft. Dabei ich wurde zu Hause gebraucht". Aus dieser Zeit stammt auch die einzigartige Kopfbedeckung, die dem Bauern das Prädikat "Stadtteil-Original" und den Beinamen "Taschentuch-Morgen" eingebracht hat. Ein an den vier Ecken zusammengeknotetes Taschentuch hat Morgen in der Hitze Kaliforniens vor der Sonne geschützt und tut es noch heute auf der Kernscheider Höhe. Ohne das praktische Käppi geht Erwin Morgen nicht aus dem Haus - "egal, ob Winter oder Sommer". 1948 kehrte Erwin Morgen aus der Kriegsgefangenschaft heim. "Aber es hat lange gedauert, bis man wieder auf Tuchfühlung mit dem Dorf war." Die schlimmen Erlebnisse in jungen Jahren haben Bauer Morgen nicht verbittern lassen. Viel Humor legt er an den Tag, und obwohl er sich mit seinen 80 Jahren den Ruhestand redlich verdient hätte, macht er mit seinen rosigen Wangen, den wachen Augen und dem verschmitzten Lächeln einen überaus aktiven Eindruck. Denn er steht immer noch in aller Frühe auf, kümmert sich mit seinem Sohn um den Betrieb und die Tiere, holt Holz zum Heizen. Seinen Hof hat er selten verlassen, nur zweimal war er für wenige Tage im Schwarzwald und in Nancy. Und auch in die Trierer Innenstadt zieht ihn wenig. Sein Glück hat Erwin Morgen in der Ruhe Kernscheids auf seinem Hof mit seiner Frau und den Kindern gefunden.

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