Vom Bürgergefängnis in die Demokratie

Trier · "Es war wie eine demokratische Atemnot." Mit diesen Worten beschreibt Steffen Reiche das Leben in der DDR. Zur Eröffnung der Sonderaustellung im Karl-Marx-Haus über die Gründung der Sozialdemokratischen Partei der DDR und der Friedlichen Revolution 1989/90 spricht der 54-Jährige Mitbegründer der Partei vor mehr als 70 interessierten Besuchern.

Trier. Frieden, Freiheit und Demokratie - der Wunsch danach bestimmte schon vor etlichen Generationen das Handeln der Menschen. Dass diese Werte nicht selbstverständlich sind, daran erinnert die Sonderausstellung "Wir haben die Machtfrage gestellt! - SDP-Gründung und Friedliche Revolution 1989/90" im Karl-Marx-Haus. Bis zum 12. November können Besucher bei freiem Eintritt die Entwicklung der Sozialdemokratischen Partei der DDR (SDP) nachvollziehen. Auf 30 Plakatwänden präsentiert die Ausstellung die Parteigeschichte - von der ersten Idee über die Gründung hin zum ersten Wahlkampf und schließlich zur Fusion mit der SPD im wiedervereinigten Deutschland.
Parteigründung als Geschenk


Zur Eröffnung der Ausstellung sprach der Mitbegründer der SDP, späterer SPD-Landesvorsitzender und ehemaliger Bildungsminister von Brandenburg, Steffen Reiche, über seine politischen und privaten Erfahrungen in der DDR und stellte sich den Fragen der Besucher. "Der wirksamste Widerstand ist gewaltlos, und für uns war klar, dass es auch in der DDR wieder eine Sozialdemokratie braucht", sagt der 54-Jährige.
Reiche studierte Evangelische Theologie und trat 1988 seine erste Pfarrerstelle an. "Die Kirche war für mich damals der einzige Ort, an dem noch alles demokratisch geregelt war." Zwei Mal im Jahr durfte er für kurze Zeit in den Westen ausreisen, weil die Großeltern Geburtstag feierten - und bekam dabei einen Eindruck von der Bundesrepublik, der völlig anders war als der, den die DDR ihren Bürgern vermitteln wollte. "Es gab natürlich nicht die Kapitalisten, die mit der Peitsche ihre Arbeiter knechteten."
Zurück im Bürgergefängnis, wie Reiche die DDR nennt, war für ihn klar: Es muss sich etwas ändern und das auf politischer Ebene. Er schloss sich einem organisierten Widerstand an, der in wenigen Wochen eine Parteigründung vorbereitete. Am 7. Oktober, dem 40. Geburtstag der DDR, wurde die SDP schließlich gegründet. "Es war wie ein Geschenk an die DDR, um ihr zu zeigen, dass ihre Existenz nicht legitim ist." Schnell nahm die Partei feste Strukturen an und fusionierte nach der Wende 1990 mit der westdeutschen SPD.
Mehr als 70 Interessierte waren am Morgen und am Abend zum Zeitzeugengespräch gekommen, hörten aufmerksam zu und stellten weit über die vorgesehene Zeit Fragen an Reiche. "Das war sehr spannend und ich habe enorm viel gelernt und mitgenommen", sagte Michael König, der Geschichte in Trier studiert.
Am Ende plädierte Reiche für Mut zu mehr Demokratie, vor allem in Europa und für die gesamte Welt. "Als die Grenzen geöffnet wurden, hätte sich morgens niemand ausmalen können, was abends passieren wird. Unsere politischen Wünsche können viel schneller wahr werden, als wir uns vorstellen."
Schulklassen können nach vorheriger Anmeldung die Ausstellung gemeinsam besuchen. Weitere Infos unter Telefon 0651/970680 und im Internet unter <%LINK auto="true" href="http://www.fes.de/karl-marx-haus" class="more" text="www.fes.de/karl-marx-haus"%>

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