IHRE MEINUNG

Zur Berichterstattung über den Kriegswinter 1944/45:

Im Mittelalter bauten die Menschen mancherorts Wehrkirchen. Im Kriegswinter 1944/45 wurde auch die Pfarrkirche St. Martin im saarländischen Schwalbach zu einer solchen. Gut dreieinhalb Monate lag Schwalbach unter Artilleriebeschuss. 21 Menschen suchten am 19. November 1944 im Keller unter der Sakristei der Pfarrkirche Zuflucht, darunter der langjährige Schwalbacher Organist Wilhelm Schröder mit Frau und unsere Familie, mein Vater mit vier Kindern. Zwei Brüder und die Mutter waren bereits als Kriegsopfer gestorben. Wer den Keller kennt, wird sich wundern, wie hier 21 Menschen in einem einzigen, engen Raum 111 lange Tage und Nächte leben und sich versorgen konnten. Immer wieder brachte das Getöse von Granateinschlägen Angst und Schrecken. Offensichtlich peilte die gegnerische Artillerie den Turm der Pfarrkirche an. Sie war bereits schwer beschädigt. 19 Männer, Frauen und Kinder in Schwalbach starben. Alle 21 Menschen im Sakristeikeller überlebten. An Heiligabend bat Organist Schröder uns drei Brüder, mit in das verwüstete Gotteshaus zu kommen. Er wollte auf der Orgel die alten Weihnachtslieder spielen. Wir sollten den Blasebalg treten. Elektrizität gab es längst nicht mehr. Die Melodien des Christfestes rührten die Herzen wie nie. Lag doch die Zukunft angesichts des schrecklichen Krieges im Dunkel. Am frühen Morgen kam der Organist von einem mutigen Rundgang zurück. Tränenüberströmt schluchzte er: "Meine Orgel!" Die Turmfront der Kirche hatte einen Volltreffer. Das Geschoss hatte ein kreisrundes Loch von etwa eineinhalb Metern Durchmesser in die dicke Turmmauer gerissen, exakt an der Stelle, an der wir am Abend den Blasebalg getreten hatten. Die Orgel war total zertrümmert. Den Schmerz des Organisten konnten wir Brüder nicht verstehen. Wir waren damals 14, 10 und 8 Jahre alt. Am 19. März 1945 besetzten amerikanische Soldaten den Ort und verschafften sich Zugang auch in die Pfarrkirche. Wir Kinder liefen neugierig mit und waren beeindruckt. Ein Offizier ging voran und machte vor dem Altar eine Kniebeuge. Der Krieg war zu Ende. Gott sei Dank. Hermann-Josef Kirsch, Trier

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