Neulich im Wartezimmer

In Ärzte-Wartezimmern bietet sich reichlich Stoff für soziale Studien. Eine eigenartige Atmosphäre herrscht in den Vorhöllen der Götter in Weiß: Ein Konsens scheint Menschen zu einen, die sich bis dato nie begegnet sind.

Das Phänomen heißt "Jeder ignoriert jeden und vermeidet direkten Blickkontakt." Der Versuch einer Gesprächsaufnahme verbietet sich selbstredend. Neulich allerdings glaubte ich mich "im falschen Film". Gemeinsam wartend mit einem älteren Ehepaar und drei "mittelalten" Männern, erlebte ich, wie ein ebenfalls "mittelalter" Mann die Tür zum Wartezimmer öffnete, sich angewidert umdrehte und theatralisch die Sprechstundenhilfe "anpampte": "Nä, niemals. Da setz' ich mich nicht rein. Das ist eine Zumutung." Die Zumutung waren offenkundig wir - genauer gesagt, unsere angeblichen Ausdünstungen. Offensichtlich weilte auch außerhalb des Wartezimmers ungepflegtes Volk, denn dort setzte der Mann seine Schimpftirade fort - bevor er mit deutlichen Worten die Arztpraxis verließ. Wir Stinkenden hatten das Geschehen durch die Glastür verfolgt - und plötzlich ein gemeinsames Thema. "Was ist dem denn über die Leber gelaufen?", "Der tickt ja nicht richtig" - Einstiegssätze für eine ungeplante, generationenübergreifende Kurz-Konversation. Um über diesen Flegel herzuziehen, waren alle bereit, für eine Minute die Regenbogenpresse aus der Hand zu legen. Einen Moment habe ich zur Decke geguckt - ob da vielleicht eine Kamera hängt und jemand anderes auch diese Vorstellung hat mit den Wartezimmern und den Sozialstudien...Susanne Windfuhr In der Kolumne "Guten Morgen" beschreiben wechselnde Autoren ihre Gedanken zum Tag.

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