Schwester

Sie ist schon ein paar Jahre her, die Geschichte, die mir an einem Sommertag in Hamburg passiert ist. Immer wenn ich den ersten Eisbecher des Jahres esse, fällt sie mir wieder ein: Wie ich aus Versehen beim Umsteigen den falschen Zug genommen hatte und so unverhofft in Hamburg festsaß.

Der Zug zurück fuhr erst wieder in zwei Stunden. Ärgerlich, aber dann wenigstens das Beste draus machen. Das Beste, das war in diesem Fall ein großer Eisbecher in der Sonne. Und da kam sie auf mich zu: eine junge Frau, vielleicht 18, 20 Jahre alt. Ziemlich mitgenommen sah sie aus, Junkie, drogenabhängig, keine Frage. Das fehlt mir grade noch, jetzt hier angebettelt zu werden. Nein, ich hab nicht "mal ne Mark", das steht für mich schon fest, bevor sie überhaupt meinen Tisch erreicht hat. Andrerseits - kann einem ja auch leid tun, jemand, der so abhängig ist. Da muss es doch auch Hilfsangebote geben, Ausstiegsprogramme - bloß, die werden vermutlich nicht angenommen... "He, Schwester - ich möcht' dir gern ne Blume schenken!" Die junge Frau bleibt an meinem Tisch stehen, und schon habe ich eine leicht angewelkte Rose in der Hand. Verblüfft hat sie mich. Auf einmal bekomme ich etwas geschenkt?! Dabei war mir doch so klar gewesen, wenn hier jemand gibt - oder auch nicht - dann bin ich das. Aber was mich noch mehr getroffen hat: "Schwester" hat sie gesagt. "Was ihr dem Geringsten meiner Brüder und Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan", sagt Christus. Meine Schwester vom Hamburger Bahnhof hat mir Gutes getan. Auch wenn die Rose die Heimfahrt im völlig überfüllten Zug leider nicht überstanden hat. Friederike Fleck Pfarrerin

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