ZUM ADVENT

Ich habe einen Entschluss gefasst. Ich werde umziehen. Noch vor Weihnachten. Meinen verbleibenden Urlaub opfere ich ganz dafür und werde sogar in Kauf nehmen, bei plötzlichem Wintereinbruch über spiegelglatte Straßen schlitternd Kartons in irgendeine Wohnung irgendwo am Ende dieser Stadt in ein 15. Stockwerk zu schleppen.

Hauptsache weg von meinem bisherigen Wohnort. Meine neue Adresse wird anonym bleiben, und ich werde ganz sicher keinen Nachsendeantrag stellen. Denn ich werde verfolgt. Seit etwa sechs Wochen geht das schon so. Jeden Abend, wenn ich nach Hause komme, ist er schon da, und ich ziehe ihn aus einem Haufen ähnlicher Schreiben aus meinem Briefkasten hervor: der Spendenaufruf. So an die 83 Anfragen dürften es inzwischen sein, alle perfekt vorbereitet und mit einem fast fix und fertig ausgefüllten Überweisungsträger versehen. SOS Kinderdorf, Brot für die Welt, Ärzte ohne Grenzen, Missio, Greenpeace, das Deutsche Rote Kreuz, der Tierschutzverein, die Blindenwerke Bethel und viele andere verüben täglich kleine Anschläge auf mein soziales Gewissen. Und dann diese Einrichtungen, die sich auf subtilere Weise an mein Gewissen ranpirschen, indem sie mir mit dem Bittschreiben gleich kleine Präsente wie Kalender, handbemalte Postkarten oder Adress-Aufkleber zusenden und mich damit innerhalb weniger Sekunden endgültig in einen Konflikt stürzen. Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht, aber mich macht dieser Druck fix und fertig. Deshalb entschwinde ich an eine Adresse, wo mich niemand ausfindig machen wird. Erst wenn mich die hilfsbedürftigen Einrichtungen dieses Landes von ihren Listen gestrichen haben, werde ich wieder aus der Versenkung auftauchen. Deshalb schon mal jetzt und ohne Absender: Frohes Fest! Susanne Windfuhr

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