ZUM ADVENT

Heute liegt er auf den Tag genau 40 Jahre zurück, jener Abend, an dem ich meinen Glauben an den Nikolaus verlor. Man muss wissen: Damals gab es noch keinen buckligen Santa Claus im Coca-Cola-Outfit, da kam noch ein Mann ins Zimmer, der auf uns Siebenjährige wirkte wie ein Riese, wenn er sich mit seinem hohen Bischofshut bücken musste, um überhaupt durch den Türrahmen zu passen.

Er hatte ein großes, schweres Buch dabei, das er mit strenger Miene aufklappte, um die Missetaten der Kinder vorzulesen. In unserem Wohnzimmer fanden sich seinerzeit auch immer die Kinder unserer Verwandschaft ein. Man muss wissen: Damals gab es noch Verwandte, die in der Nachbarschaft wohnten. So waren wir sechs bis acht "Pänz", die in ängstlicher Erwartung auf den heiligen Mann schielten und mit zittriger Stimme, unterstützt vom kräftigen Gesang der Mütter und dem wortlosen Gebrumm einzelner Väter, ein Nikolaus-Lied intonierten. Ich war einer der ältesten und deshalb früh dran mit der Gardinenpredigt. Und da passierte es: Der Nikolaus las mir ein Sündenregister vor, das eindeutig nicht von mir stammte, sondern von meinem Klein-Cousin nebenan. Nicht, dass ich keine Sünden begangen hätte. Aber es waren einfach die falschen. Natürlich sagte ich kein Wort. Doch mein Glaube war erschüttert. Da klingelte, noch vage, aber unüberhörbar, eine Erkenntnis: Dass da möglicherweise nicht der liebe Gott was aufgeschrieben haben könnte, sondern die Eltern. Und dass da einer ganz schnöde die Zettel mit den Infos vertauscht hatte. Zumal ich den leisen Gesprächen der Erwachsenen nach dem Abgang des Mannes mit dem Stab einen Wortfetzen abgelauscht hatte, der klang wie: "Der war aber schon wieder ganz schön bedudelt heute". Man muss wissen: Damals in meinen Kindertagen waren keine amtlich geprüften Studi-Nikoläuse von der Katholischen Fakultät unterwegs, sondern ältere Herren, deren schmales Salär meist in Gestalt von Schnäpschen ausgezahlt wurde. Je nachdem, wie spät man am Abend dran war, blieb das nicht folgenlos. Nicht ohne Folgen blieb aber auch der abrupte Verlust des Kinderglaubens bei mir. Zumal ich ein knappes Jahr später auch meine zweite Heiligen-Identifikationsfigur, den St. Martin verlor. Ich war gerade nach der Prozession auf dem Heimweg, als das Pferd den ebenfalls auf dem Rückweg befindlichen, festlich geschmückten Reiter an der Konzer Saarbrücke kurzerhand abwarf, was St. Martin nicht nur mit dem Verlust seines goldenen Helms, sondern auch mit einem kräftigen "Sch..." quittierte. Man muss wissen: Damals gab es für Kinder noch zutiefst verpönte "Bäh-Wörter", und dieses gehörte eindeutig dazu. So war ich im zarten Grundschulalter nicht nur den heiligen Nikolaus, sondern auch St. Martin los geworden. Vielleicht der Grund, warum ich mich bis heute mit Heiligen aller Art ziemlich schwer tue.Dieter Lintz

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