guten_Morgen_cju_0704_(Junk_

Ich werde beobachtet. Nein, ich leide nicht an Wahnvorstellungen. Ich lebe in einer billigen Version einer Reality-Show. Ich weiß es genau. Bestimmt kassiert irgendjemand jede Menge Kohle dafür, dass ich täglich wechselnde Unterhaltung biete.

Und ich sehe keinen Cent! Ist ja klar.Was los ist? Meine Nachbarn sind los. Die blau-bekittelten Menschen von gegenüber sind die Ursache allen Übels. Täglich sitzen sie in ihrem Aufenthaltsraum und starren mich an. Sie wissen mehr über meinen Alltag und mein Privatleben als mancher meiner Freunde. Sie kennen jede Kleinigkeit von mir: Wann ich aufstehe, wer mich wann besucht, und wie ich nach dem Aufstehen aussehe. Mit zerzausten Haaren und müdem Blick spüre ich morgens die neugierigen Blicke auf meinem Rücken, wohlwissend, dass wohl wieder jemand Neues in der Praxis angefangen hat, der noch nicht weiß, dass ich ihm eine adäquate Unterhaltung zum Fernsehprogramm oder der Zeitung biete.Jegliche Privatsphäre ist verloren. Jegliche? Fast, denn das Bad ist nachbarfreie Zone. Aber auch nur, weil ich aus sicherer Quelle - ein Mensch gegenüber hat sich nach einem halben Jahr erbarmt, es mir zu sagen - weiß, dass "Milchglasfenster definitiv nicht undurchsichtig" sind. Seitdem bleiben die Rollos unten und ich von der Neugierde verschont.Aber da ich nicht den ganzen Tag im Bad verbringe, muss ich mich den Blicken stellen. Doch ich starte den Gegenangriff und starre zurück - unverhohlen, penetrant und ausdauernd. Denn in der ganzen Zeit habe ich etwas gelernt: Die Blicke fremder Menschen kann ich nicht abhaben, und gegen seine Nachbarn kann man nichts machen, außer, sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Also raus aus dem privaten Sendeprogramm und auf zum Glotz-Angriff! Und denkt dran: Ich kann euch auch sehen!

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