guten_morgen_sim_15.6

Wir hatten uns 25 Jahre nicht mehr gesehen. Günter und ich hatten mal ein paar Jahre gemeinsam die Schulbank gedrückt. Eine tiefe Freundschaft war nie entstanden, die Freude über das Wiedersehen war dennoch groß.

"Der Theoretiker" nannten einige meiner Kameraden damals Günter. Ja, ja, der Günter kannte sich aus. Kommunismus, Kapitalismus, Sozialismus — Günter wusste Bescheid. Und bei unserem Treffen, so nach dem zweiten Glas Wein, begann Günter mir wieder die Welt zu erklären. Diesmal ging es um die Globalisierung, um Neo-Kapitalismus, um das "imperialistische Amerika", um "scheinheilige Kirchengänger", kurzum: um alles "Schlechte und Böse" in der Welt —aus Günters Sicht. "Ich bin ein Humanist", sagte Günter mehrmals. Er vermisse Toleranz, Menschlichkeit und Wahrhaftigkeit in unserer kalten, konsumorientierten Gesellschaft. Der Abend wurde spät, schließlich fragte ich Günter, wie es denn seiner Mutter so geht. "Die lebt im Altersheim. Habe sie schon ein Jahr nicht mehr gesehen", antwortete Günter. Günter der Humanist, Günter der Moralist war entlarvt. Lange dachte ich nach, und ich erinnerte mich an einen Spruch von Erich Kästner, den ich Günter mit auf den Weg gab: "Es gibt nichts Gutes, außer man tut es."

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