Die Römer haben auch keine Ahnung

Schon seit Jahren will ich es tun, tue es partout nicht und ärgere mich freckt. Und jetzt kommt auch noch das Bistum mit seinem 54-seitigen Heilig-Rock-Programm und erklärt Pilgern auf Seite 39, dass sie es (vier Mal täglich!) tun könnten.

Längst wollte ich das große Gräberfeld unter der Trierer Maximinkirche besichtigt haben. Was mache ich stattdessen? Besichtige die Katakomben in Rom. Als wären römische Leichenkeller schöner als unsere. Okay, okay, sie sind schön, wie sie da an der Via Appia liegen. Dieser uralten Holperstraße, an der im Abendrot zwischen Zypressen und römischen Gräbern (à la Igeler Säule, nur ohne Tanktouristen) romantisch die Grillen zirpen. Kurz: Da kann man prima knutschen. Aber das könnte man in Trier auch. Und die Trierer Römer haben bestimmt auch hübsche Nekropolen gebaut. Ich war zwar noch nicht drin, aber ich habe jahrelang direkt obendrauf gewohnt. Und wenn ich unseren Maximinstraßen-WG-Müll rausbrachte, dann wurde mir das auch jedes Mal bewusst. Denn direkt neben unseren Tonnen standen Sarkophage, für die es da unten offenbar keinen Platz mehr gab und für die Leute andernorts Museen bauen würden. Im Karl-Marx-Haus war ich übrigens auch noch nicht. Glücklicherweise muss ich aber auch nicht fürchten, dass die Pilger mich abhängen. Denn dieses Haus gehört nicht zu den Höhepunkten des Heilig-Rock-Programms. Kleiner Exkurs: Man braucht bei Google nur das Wort "Religion" einzugeben, und dann kommt (noch vor der Definition des Wortes Religion! - zumindest in meinem Computer?) als allererster Vorschlag Karls Sprüchlein: "Religion ist das Opium des Volkes." Er fände Trier wohl derzeit ziemlich berauscht. Ich finde es auch recht voll. Aber schön. Wie immer. Und wenn ich mich mal wieder freckt ärgere, weil alle mehr über mein Städtchen wissen als ich, dann tröste ich mich damit, dass die Millionen Chinesen, die sich hier Karl Marx‘ Unterhose angucken, noch nie auf ihrer eignen Mauer waren und die Römer, die zum Rock pilgern, keine Ahnung haben, wie nett es sich auf der Via Appia knutschen lässt. In ihrer Kolumne "Trier rockt" macht sich unsere Redakteurin ihre eigenen Gedanken über die Heilig-Rock-Wallfahrt.

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