„Der Lehrer forderte uns auf, volle Einmachgläser gegen die Wand zu werfen!“

Trier · Sie war zehn Jahre alt, er 12. Vergessen haben sie nie. Jenen Morgen des 10. Novembers 1938 nach der Reichspogromnacht, als in Trier wie überall im Land jüdische Wohnungen und Häuser demoliert und die Synagogen geplündert und angezündet wurden. Im Gespräch mit dem TV erzählen Magda und Werner Schuler.

 Magda und Werner Schuler haben die Reichspogromnacht 1938 als Kinder miterlebt.

Magda und Werner Schuler haben die Reichspogromnacht 1938 als Kinder miterlebt.

Foto: Sandra Blass-Naisar

Die heute 83 Jahre alte resolute Dame mit den vollen grauen Haaren erinnert sich nicht gerne an die Kriegsjahre, aber sie weiß, wie wichtig es ist, wenn Zeitzeugen den Jungen erzählen, was sie am eigenen Leib erfahren haben.

Magda Schuler, geborene Klein, wohnte damals in der Nagelstraße 28 und besuchte die Volksschule Trier-Mitte, vormals St. Antonius und St. Gervasius. An jenem 10. November hätten die Schüler beim Fahnenappell auf dem Schulhof ein neues Lied gelernt: "Schmeißt sie raus die ganze Judenbande. Schmeißt sie raus aus unserm Vaterlande!

Dann zogen wir mit unsern Lehrern klassenweise durch die Feld- und Johannisstraße zum Zuckerberg Richtung Synagoge. Dort erinnere ich mich an Qualm. Irgendetwas hatte gebrannt, vielleicht Bücher. Kirchenbänke standen auf der Straße vor der Synagoge. Wir mussten uns aufstellen und das neue Lied vor der zerstörten Synagoge singen.

Danach zogen wir durch die Kurzstraße, Nagelstraße zur Neustraße. Ich erinnere mich an zerschlagene Fensterscheiben, an zerrissene Gardinen, die vom Wind durch die kaputten Scheiben geweht wurden. Es war entsetzlich. So etwas hatte ich noch nie gesehen.

In der Neustraße war in einem Bäckerladen die ganze Schaufensterscheibe zerstört. Zwischen den Glasscherben standen in der Auslage noch die gefüllten Bonbon-Gläser. Unser Lehrer forderte uns auf, wir sollten uns bedienen. Die Bonbons einfach nehmen. Ich hatte ein ganz komisches Gefühl. So etwas durfte man doch nicht. Ich stamme aus einem sehr christlichen Elternhaus. Das war doch Stehlen, eine Sünde. Ich habe nicht zugegriffen, einige meiner Mitschülerinnen auch nicht, andere wiederrum nahmen sich die Bonbons. Dann gingen wir durch die Südallee wieder zurück zur Schule."

Auch Werner Schuler, ein waschechter St. Mattheiser Jung, der als Messdiener und Sängerknabe von seinem Lehrer, einem SA-Obersturmführer, drangsaliert wurde, erinnert sich gut an den Morgen des 10. November. Der 12-jährige aus dem Euchariusfeld besuchte die Volksschule St. Matthias, seit 1937 wie alle kirchlichen Schulen der Nazi-Ideologie folgend in "Horst-Wessel-Schule" umbenannt.

"Wir hatten uns alle sehr auf diesen Tag gefreut. Der Lehrer hatte einen Klassenausflug nach Saarburg versprochen, und wir waren morgens alle zeitig zur Stelle, Marschverpflegung im Rucksack.

Mit frohem Gesang, mit viel Erwartung, manchem Witz und Neckereien, wie sie bei solchen Gelegenheiten üblich sind, ging es an Estrich vorbei, weiter an der Mosel, vorbei an Karthaus und Konz. Dann ging es über die Saarbrücke Richtung Könen. Die Dorfstraße lag ruhig vor uns. Kein Mensch war zu sehen. Dann plötzlich, nach einer scharfen Kurve, sahen wir Gruppen diskutierender Menschen, SA-Männer, zerbrochene Fensterscheiben, heruntergerissene Gardinen. Überall lag zerschlagenes Porzellan herum, heruntergeworfene Fensterrahmen und vereinzelt auch Möbel. Ein Bild der Verwüstung. Zerstörungen nicht nur an einem Haus, gleich an zwei oder drei Häusern nebeneinander.

Niemand rührte eine Hand, um zu helfen. Etwas seitlich entdeckte ich eine kleine Gruppe von Menschen, traurig. Ein paar Frauen weinten.

Da baute sich unser Lehrer - SA-Obersturmführer - vor uns auf. Er hielt eine flammende Rede: über die Ermordung des Botschaftsangehörigen von Rath in Paris durch einen Judenlümmel. Heute habe "die große Abrechnung mit diesen Feinden des deutschen Volkes" begonnen.

Dann schickte er uns in die Häuser. Auch ich ging in das erste Haus hinein. In einem Raum, es war wohl die Küche, kauerte in der Ecke ein altes Paar. Die Frau hatte den Kopf an die Brust des Mannes gelehnt und wurde von heftigem Weinen geschüttelt. Der Mann schaute uns unendlich traurig an. Es war, als sehe er durch uns hindurch.
Dann hörte ich, wie der Lehrer Mitschüler anstellt - vor den Augen dieser beiden alten Leute - volle Einmachgläser an die Wand zu werfen. Wut und Empörung stiegen in mir auf. Mir war übel. Ich drückte mich nach draußen. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Wie können Menschen so grausam sein, dachte ich.
Dann rief der Lehrer zum Sammeln.

Bis vor Jahren, als ich noch Auto fuhr, wurde mir immer ganz komisch, wenn wir durch Könen fuhren..."

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