"Alles von vorne"

Der neu entflammte Streit über branchenspezifische Mindestlöhne führt zu seltsamen politischen Allianzen. So hatten FDP und Linkspartei gestern gemeinsam eine Aktuelle Stunde im Bundestag initiiert, um die große Koalition bei diesem heiklen Thema vorzuführen. Das war auch nicht schwer, denn seit einigen Tagen verläuft der Riss in der Mindestlohnfrage nicht nur zwischen Christ- und Sozialdemokraten. Er geht auch quer durch CDU und CSU.

 Die Debatte um den Mindestlohn wird zum Prüfstein – auch für die Große Koalition. TV-Foto: Archiv/Friedemann Vetter

Die Debatte um den Mindestlohn wird zum Prüfstein – auch für die Große Koalition. TV-Foto: Archiv/Friedemann Vetter

Berlin. Auslöser der Debatte ist das jüngste Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts, wonach der unter großen politischen Wehen zustande gekommene Post-Mindestlohn rechtswidrig ist. Zur Begründung erklärten die Richter, mit seiner Allgemeingültigkeits-Verordnung habe Arbeitsminister Olaf Scholz (SPD) das Entsendegesetz verletzt.Hintergrund: In der Postbranche gibt es zwei konkurrierende Tarifverträge mit unterschiedlichen Mindestlöhnen. Die privaten Konkurrenz-Unternehmen der Post hatten in ihrer Klage argumentiert, dass der Zwang zur Zahlung eines höheren Lohns ihre Existenz gefährde. Dem folgte das Gericht. Das Bundesarbeitsministerium legte umgehend Berufung gegen das Urteil ein. Eine endgültige Entscheidung ist kaum vor dem Herbst zu erwarten. Bis dahin soll der höhere Post-Mindestlohn weiter gelten. Von der CDU-Spitze bekam Scholz ausdrücklich Rückendeckung für sein Vorgehen. Partei-Generalsekretär Ronald Pofalla verwies auf die gegenteilige Rechtssprechung anderer Gerichte und bekräftigte die Zusage von Kanzlerin Angela Merkel, an den Koalitionsverabredungen zum Post-Mindestlohn festzuhalten. Merkel geht es um den Koalitionsfrieden und darum, die wegen des Hessen-Debakels angeschlagene SPD nicht noch weiter in die Ecke zu treiben. Umso eifriger attackierten andere Unionisten den Arbeitsminister. Nach Überzeugung von CSU-Landesgruppenchef Peter Ramsauer muss bei der Mindestlohn-Debatte nun "im Grunde genommen alles von vorne beginnen". Der Wirtschaftsflügel der CDU stichelte, dass Scholz bei der Post-Verordnung "nicht ganz ordentlich gearbeitet" habe und eine Verabschiedung weiterer Mindestlöhne zurückgestellt werden müsse. Und der arbeitsmarktpolitische Sprecher Ralf Brauksiepe (CDU) mahnte den Vorrang tariflicher vor gesetzlichen Regelungen an. "Wir können unterschiedliche Tarifverträge nicht ignorieren", erklärte Brauksiepe. Genau das ist der Streitpunkt bei den Gesetzesplänen von Scholz. Neben dem Post-Mindestlohn hatte die Koalition im Grundsatz vereinbart, durch eine Novellierung des Entsendegesetzes und anderer Vorschriften die Einführung von Mindestlöhnen in weiteren Branchen zu ermöglichen. Die Union bemängelt nun, dass Scholz in seinen Entwürfen die Hürden dafür viel zu niedrig gelegt hat. Für Bundeswirtschaftsminister Michael Glos ist das ein klarer Verstoß gegen die Tarifautonomie. So lange die Vorstellungen seines Hauses im Scholz-Entwurf ignoriert werden, "gibt es keine Zustimmung", erklärte Glos. Damit ist eine Entscheidung im Bundeskabinett auf Eis gelegt. Doch es gibt noch mehr Zündstoff. Kürzlich hatte auch die Zeitarbeitsbranche bei Arbeitsminister Scholz die Zulassung eines allgemeinverbindlichen Mindestlohns beantragt. Auch hier gibt es konkurrierende Tarifverträge. Weil durch sie aber fast alle Arbeitnehmer tariflich gebunden sind, sieht die Union bei der Zeitarbeit keinen gesetzlichen Handlungsbedarf. Das hat auch Angela Merkel schon öffentlich bekundet. Kein Wunder, dass sich die Opposition gestern im Bundestag vergnügt die Hände rieb.

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