Beten für bessere Zeiten
Die Finanzkrise zieht in den Vereinigten Staaten inzwischen eine breite Spur durch das Alltagsleben der Menschen. Bei vielen reicht das Geld nicht mehr aus, um Lebensmittel zu kaufen. Die Not führt zu teils bizarren Methoden der Geldbeschaffung.
Chicago/Detroit. Zuerst stimmt der Kirchenchor das Lied "I'm looking for a miracle" an. Dann spricht Bischof Charles Ellis zu jenen Gläubigen, die in Detroit derzeit um ihre Arbeitsplätze bangen und nun auf ein Wunder hoffen - in Form von Milliarden-Dollar-Hilfen aus Washington: "Der Herrgott wird uns bei unserem Leiden zur Seite stehen." Wieder singt der Chor. Und die Kirchgänger scharen sich um drei fabrikneue Sport-Geländewagen, die man - Showeffekte müssen sein - sogar unter das Kirchendach gefahren und in der Nähe des Altars geparkt hat.
Ein Sonntags-Gottesdienst der 8000 Mitglieder starken "Greater Grace"-Gemeinde in Detroit, dem schwer geschädigten Herzen der US-Automobilindustrie im Bundesstaat Michigan: Fließbandarbeiter, Gewerkschafter und Manager tragen Schulter an Schulter ihre Fürbitten vor. "Wir sitzen alle in einem Boot", sagt Bischof Ellis, "doch in dieser düsteren Zeit ist Jesus Christus unsere Hoffnung."
400 Kilometer weiter westlich, im unter bitterer Kälte zitternden Chicago, wollen sich die frischesten Opfer der Rezession nicht nur aufs Beten verlassen. "Yes, we can!" haben die verbitterten Angestellten der "Republic"-Türen- und Fensterfabrik in der Heimatstadt Barack Obamas auf Transparente geschrieben. Seit dem Wochenende halten 250 Beschäftigte den Betrieb besetzt - seit sie erfahren haben, dass keine Gelder mehr auf dem Firmenkonto sind und sie ihren Job verlieren werden. Eine Szene mit Symbolcharakter, weil sie die düstere Lage quer durch die USA widerspiegelt. "Wer rettet uns?" fragen die wütenden Arbeiter mit Blick auf das Banken-Rettungspaket der Wall Street, während die Geschäftsleitung mit den Achseln zuckt und die zahlreich vertretenen Lokalpolitiker ratlos in die Kameras blicken. Der Umsatz ist massiv eingebrochen, die "Bank of America" - obwohl kürzlich von der US-Notenbank mit einem 15-Milliarden-Rettungskredit versehen - hat der Firma die Überziehungslinien gekündigt. Nun geht nichts mehr. Für jene, von denen viele dort mehr als 30 Jahre schufteten, ist es die bitterste Pille ihres Lebens.
Die angeschlagene Wirtschaftsmacht Amerika erlebt eine von Depressionen und nicht enden wollenden Hiobsbotschaften geprägte Vorweihnachtszeit. In Ohio erfährt eine schwangere Angestellte, dass sie in wenigen Tagen den Job verlieren wird und lässt vorzeitig die Geburt einleiten, um noch Krankenversicherungsschutz zu genießen.
Brief an Santa Claus: Bitte um einen Arbeitsplatz
In New York melden Bestatter: Angehörige bestellen doppelt so viele Einäscherungen, um die Kosten eines Sarges zu vermeiden.
Die Tierschutz-Organisation Humane Society berichtet, dass sich die Bürger unter Berufung auf finanzielle Engpässe in ungewöhnlich großer Zahl ihrer Haustiere entledigen - von Pferden, Hunden und Katzen bis hin zu Goldhamstern. Und in den Postämtern ist die Krisenstimmung in jenen Briefen ablesbar, die traditionell an "Santa Claus" gerichtet sind. Viele Kinder bitten den Weihnachtsmann diesmal nicht um Spielzeug, sondern um einen Job für die Eltern. Allein 533 000 Arbeitsplätze gingen in den USA im November verloren.
Lichtblicke finden sich nur wenige. Zur Minderheit der Krisen-Gewinner zählen Fastfood-Restaurants wie die Kette mit der goldenen Arche, die ihren Umsatz vor allem deshalb steigern konnte, weil sie eine höhere Zahl an Ein-Dollar-Gerichten verkaufte. Und zufriedene Gesichter gab es am vergangenen Wochenende auch beim Sheriff von Los Angeles und seinen Mitarbeitern. Das Anti-Kriminalitäts-Programm "Gifts for Guns", bei dem mehr oder weniger brave Bürger Waffen gegen Geschenk- und Supermarktgutscheine eintauschen können, fand enormen Zuspruch. 965 Schusswaffen und zwei Handgranaten landeten in den Kisten der Gesetzeshüter. Eckpunkte des US-Auto-Rettungspakets Das Weiße Haus und die Demokraten im US-Kongress haben Verhandlungen über einen Gesetzentwurf für die Rettung der US-Autobauer aufgenommen. Die Eckpunkte sind voraussichtlich: Ernennung eines "Auto-Zaren", der im Auftrag des US-Präsidenten die Verwendung des 15-Milliarden-Dollar-Kredits kontrolliert und die Umstrukturierung überwacht; Bestandsaufnahme der Schritte zur Neuordnung der Unternehmen bis zum 15. Februar 2009; Verpflichtung der Autohersteller, bis zum 31. März 2009 Pläne vorzulegen, wie sie sich langfristig aufstellen wollen; Befugnis des "Auto-Zaren", alle Verkäufe von Vermögenswerten, Investitionen oder Vertragsabschlüsse im Wert von mehr als 25 Millionen Dollar zu überprüfen und gegebenenfalls zu stoppen; dass der Staat im Gegenzug für den Kredit 20 Prozent der Darlehenssumme in Wertpapieren der Firmen erhält; Verzicht der 25 höchstbezahlten Manager der Autobauer auf Boni sowie eine Streichung von "Goldenen Handschlägen". Alle Firmenjets müssen verkauft werden; Streichung von Dividenden während des Zeitraums, in dem die Autofirmen staatliche Hilfe erhalten.