Gefahren aus der virtuellen Welt

BERLIN. Die Nürnberger Bundesagentur für Arbeit (BA) steckt wieder einmal tief im Schlamassel: Es bahnt sich ein handfester Finanzskandal an, der die freihändige Vergabe eines Beratervertrages durch den ehemaligen BA-Chef Florian Gerster noch in den Schatten stellen könnte.

Es geht um einen ungeahnten Kostenschub von 100 Millionen Euro für die groß angekündigte Internet-Stellenbörse, der inzwischen auch die Staatsanwaltschaft beschäftigt. Der sogenannte virtuelle Arbeitsmarkt soll alle bisherigen Internet-Offerten der Bundesagentur zusammenfassen und den Zugriff auf sämtliche Job-Angebote in der Republik ermöglichen. Doch schon beim Start des Prestige-Projekts am 1. Dezember deutete sich Ungemach an. Die Eingaben führten vielfach zu unsinnigen Suchergebnissen. Der größere Kostenblock entfällt auf die zweite Stufe des Projekts. Sie sieht eine grundlegende Modernisierung der internen Vermittlungs- und Beratungssysteme vor. Dieser Teil wurde jedoch inzwischen auf Eis gelegt. Reißleine gezogen

Noch am 11. Februar hatte die BA eine Kosten-Explosion kategorisch ausgeschlossen. Die im Vertrag mit der Beratungsgesellschaft Accenture fixierten Leistungen im Wert von 65,5 Millionen Euro würden auch zu diesem Preis erbracht, hieß es in einer Pressemitteilung aus Nürnberg. Am letzten Mittwoch, also nur zwei Wochen später, zog der Vorstand der Bundesagentur jedoch die Reißleine. Eine hausinterne Untersuchung hatte ergeben, dass die tatsächlichen Kosten bis zum Jahr 2008 auf etwa 165 Millionen hochschnellen könnten. Daraufhin wurde der zuständige Projektleiter Jürgen Koch von seinem Posten entbunden. Der neue Vorstandschef Frank Weise - er ist erst seit rund einer Woche offiziell im Amt - sprach in Interviews von möglicher Korruption. Aufträge im Wert von 15 Millionen Euro seien ohne Einverständnis der zuständigen Vergabestelle genehmigt worden. Gerüchten zu Folge wird Koch ein Verhältnis mit einer für das Projekt zuständigen Mitarbeiterin von Accenture nachgesagt. Die Nürnberger Staatsanwaltschaft überprüft derzeit, ob Geld veruntreut wurde. Im Bundeswirtschaftsministerium, dem die Nürnberger Bundesagentur rechtlich untersteht, war man nach eigenen Angaben bereits seit dem vergangenen Wochenende über die dubiosen Ereignisse unterrichtet. Eine Ministeriumssprecherin ging gestern von der rückhaltlosen Aufklärung der Fehler durch die BA aus. Zugleich stärkte sie dem Vorstandschef den Rücken. "Herr Weise hat unser volles Vertrauen." Der arbeitsmarktpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Klaus Brandner, begrüßte gegenüber unserer Zeitung die transparente Informationspolitik durch Weise. Zu den Konsequenzen gehöre auch eine genaue Analyse zum weiteren Vorgehen. "Die Frage ist, welche Mittel notwendig sind, um das Projekt zu Ende zu führen, oder ob es sinnvoll ist, das Projekt nicht zu Ende zu führen", meinte Brandner. Die Opposition schießt sich derweil auf Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) ein. Es genüge nicht, die Verantwortung auf den Rechnungshof und die BA-Innenrevision "abzuwälzen", kritisierte der CSU-Arbeitsmarktexperte Johannes Singhammer. "32 Millionen Beitragszahler wollen, dass endlich der Chef selbst mit seinem Ministerium die vollständige Aufsicht wahrnimmt." Der FDP-Bundestagsabgeordnete Dirk Niebel erinnerte gegenüber unserem Blatt daran, dass bereits im November des Vorjahres eine Verteuerung der virtuellen Job-Börse auf 77 Millionen Euro zur Debatte gestanden hatte. "Ich habe das damals im Wirtschaftsausschuss des Bundestages thematisiert, doch Clements Staatssekretär Andres hat das arrogant abgebügelt", sagte Niebel. Damit stelle sich das Problem, inwieweit das Ministerium seiner Verantwortung nachgekommen sei. "Offenbar haben alle Aufsichtsgremien vom BA-Verwaltungsrat bis hin zu Clement gnadenlos versagt", befand Niebel. Spätestens in der kommenden Woche dürfte die Affäre noch an Fahrt gewinnen. Dann treffen sich die Bundestagsabgeordneten wieder zu ihren turnusmäßigen Sitzungen in Berlin. Der BA-Chef ging dazu schon gestern in die Offensive. Am nächsten Mittwoch, so ließ Weise verkünden, will er den Wirtschaftsausschuss des Parlament persönlich über den neuen Skandal informieren.

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