Potenziale der Jugendlichen heben

Trier · Handwerk und Industrie sind beunruhigt: Ihnen geht der Nachwuchs aus. Rund 57 Prozent der jungen Erwachsenen ziehen heute ein Studium einer klassischen Berufsausbildung vor. "Bachelor statt Facharbeiter - gerät die berufliche Bildung ins Abseits?" lautete folgerichtig eine Veranstaltung, zu der die beiden Kammern im Rahmen ihres Wirtschaftsforums eingeladen hatten.

 Diskutierten beim Wirtschaftsforum Jan Glockauer, Rudi Müller, Manfred Bitter, Peter Adrian, Michael Jäckel, Thomas Deufel, Franz Zink, Friedrich-Hubert Esser und Julian Nidan-Rümelin (von links). TV-Foto: Rolf Lorig

Diskutierten beim Wirtschaftsforum Jan Glockauer, Rudi Müller, Manfred Bitter, Peter Adrian, Michael Jäckel, Thomas Deufel, Franz Zink, Friedrich-Hubert Esser und Julian Nidan-Rümelin (von links). TV-Foto: Rolf Lorig

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Trier. Julian Nida-Rümelin, einst Kulturstaatsminister im ersten Kabinett von Exkanzler Gerhard Schröder und Lehrstuhlinhaber für Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, prägte schon vor Jahren den Begriff "Akademisierungswahn". Und auch in Trier weist der Professor auf eine sichtbare Schlagseite im Bildungssystem hin: "Wir haben derzeit eine einseitige Bewertung, bei der das eine wichtig und das andere unwichtig ist." Bei den Überlegungen zum künftigen Beruf ihrer Kinder seien viele Eltern verfestigten Ideologien verhaftet: "Die Zukunft wird oft nur über Abitur und Studium gesehen." Für Nida-Rümelin ein bildungsökonomischer Denkfehler: "Gerade im Berufsleben brauchen wir intelligente und befähigte Menschen." Den Beweis dafür, dass Intelligenz nichts mit der Tatsache eines Abiturs oder eines Studienabschlusses zu tun haben muss, sieht er im deutschen Mittelstand: "In kaum einem anderen Land hat der Mittelstand den wirtschaftlichen Erfolg so derart nach vorne gebracht wie hier in Deutschland." In seinem Credo plädiert der Philosoph für ein Bildungssystem, das sich konsequent an der Vielfalt von Begabungen, Interessen, Berufs- und Lebenswegen orientiert. "Wir müssen Bildung als Differenzierungsangebot verstehen, das Menschen ermöglicht, ihren individuellen Weg zu gehen." Neuer Stellenwert des Handwerks Dem stimmt Michael Jäckel zu. Der Präsident der Universität Trier macht bei der Diskussion zum Wirtschaftsforum der beiden regionalen Kammern unter der Leitung des früheren Fernsehjournalisten Franz Zink deutlich, dass die klassische Berufsausbildung heute in der Eltern- und Lehrerschaft nicht mehr die Unterstützung hat wie in den 50er und 60er Jahren: "Das war damals anders." Mit Blick auf das duale Studium gibt Jäckel zu bedenken, dass Berufsausbildung und Studium sich jedoch nicht gegenseitig ausschließen. Auf einen ganz anderen Aspekt weist Friedrich Hubert Esser, Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung, hin: "Wer sich heute als Bäcker oder Fleischer selbstständig machen will, nimmt hohe finanzielle Kosten in Kauf. Dazu kommt die Problematik der Vereinbarkeit von Familie und Beruf." Weshalb heute Berufe aus der Wissensgesellschaft einen anderen Stellenwert hätten als Berufe aus dem Handwerk. "Und deshalb muss sich im Handwerk auch etwas tun." Für ein chancenoffenes System setzt sich Thomas Deufel, Staatssekretär im Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur in Rheinland-Pfalz, ein. Der Weg aus der Misere erfordere ein Umdenken: "Die Bildungspolitik muss darauf hinwirken, dass es in Bildungsbiografien keine Sackgasse gibt." Verzerrte Berufswahrnehmung

Für den gelernten Bankkaufmann und IHK-Präsidenten Peter Adrian ist das der richtige Weg, der aber schon im Elternhaus und in der Schule beginnen muss: "Die Kenntnis der jungen Leute über die Vielfalt der Ausbildungsberufe ist sehr begrenzt", sagt er. Diese Vielfalt müsse der Jugend nahegebracht werden, erst dann könne es zu Veränderungen der individuellen Wahrnehmung kommen. Und diese sei dringend erforderlich, betonen zum Abschluss sowohl Handwerkskammer-Hauptgeschäftsführer Manfred Bitter und IHK-Hauptgeschäftsführer Jan Glockauer. Ihr Credo: "Wir brauchen in Deutschland beides: ein hochentwickeltes Schulsystem und eine leistungsfähige Wirtschaft. Es darf nicht zu einem Wettstreit der Systeme kommen; es geht darum, die Potenziale der Jugendlichen bestmöglich zu heben."

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