Tag der Zahlenspiele

Berlin. Der gestrige "Tag der Ausbildung" war irgendwie auch ein Tag der unheimlichen Zahlenspiele. Wenn nicht "alles mobilisiert wird, was zu mobilisieren ist", meinte beispielsweise Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD), gebe es im Herbst bis zu 70 000 Jugendliche ohne Lehrstelle: katastrophale Aussichten.

Für den Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) war diese dramatische Prognose sogar noch viel zu optimistisch "und nur im allergünstigsten Fall zu erreichen". Zur allgemeinen Überraschung präsentierten demgegenüber in Berlin die Experten des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (IW) ihre "weniger pessimistische" Sicht der Lage - maximal 30 000 Lehrstellen dürften danach im September mit Beginn des neuen Ausbildungsjahres fehlen. Zahlenspiele hin oder her, eines steht jedenfalls fest: Wenn nicht noch ein Wunder geschieht, gehen wohl Tausende der momentan 170 000 suchenden Jugendlichen zunächst leer aus. Ein Lehrstellenmangel, dessen Dimension an die zum Teil trüben 80er Jahre erinnert. Klinken putzen heißt deshalb die Devise, mit der gestern auch die hohe Politik versuchte, zusätzliche Ausbildungsplätze bei Betrieben locker zu machen. Selbst Kanzler Gerhard Schröder machte sich auf den Weg, um bei einem Berliner Chemie-Unternehmen die Werbetrommel zu rühren. Clement, seine Kabinettskollegin Edelgard Bulmahn (Bildung) und der Chef der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit, Florian Gerster, verschickten überdies 100 000 Briefe mit der Bitte um zusätzliche Lehrstellen. Bundesweit suchten mehrere tausend Beschäftigte der Arbeitsämter Firmen auf, die bislang noch keine Ausbildungsplatz gemeldet haben - im vergangenen Jahr konnte man dadurch immerhin 11 300 akquirieren. Und nebenbei kochte am "Tag der Ausbildung" zwangsläufig wieder ein Thema hoch, das vermutlich erst im Spätsommer für wirklich heftige Diskussionen sorgen wird: das der Ausbildungsplatzabgabe. Clement setzt primär darauf, "dass die Firmen viele Lehrstellen mobilisieren". Wenn dies dem Dualen Ausbildungssystem nicht gelänge, müsse der Gesetzgeber allerdings eingreifen. "Ich bin aber eindeutig gegen eine Abgabe", so der streitbare Minister, während sich Kollegin Bulmahn "als letztes Mittel" dafür aussprach. Ärger innerhalb der SPD ist damit programmiert. Helfen Appelle der Politik angesichts der Misere? Dirk Werner vom Institut der deutschen Wirtschaft glaubt ja - "besonders bei Großunternehmen". Sie würden meist deshalb über ihren Bedarf ausbilden. Derzeit nehmen solche Firmen ihr Angebot angesichts der aktuellen Geschäftslage allerdings wieder stärker zurück, wie aus eine Umfrage des IW bei 900 Unternehmen hervorgeht. Die kleinen Betriebe erweisen sich hingegen als "Stütze" des Marktes. Insgesamt, so Geschäftsführer Hans-Peter Klös, könne die Lehrstellenlücke bis zum Ende des Jahres eventuell nahezu geschlossen werden. Viele Firmen beklagen übrigens auch die mangelnde Ausbildungsreife der Jugendlichen - rund 90 000 eines Jahrgangs könnten laut Klös "keinen klaren Grundgedanken erfassen", 110 000 seien nur bedingt ausbildungsfähig.

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