"Wie Bauernopfer im Schachspiel"

Flagstaff/Washington. In der US-Armee regt sich der Widerstand gegen die Irak-Politik der Vereinigten Staaten. Präsident George W. Bush gerät in der Heimat und an der "irakischen Front" unter Druck.

Auf dem Wohnzimmertisch von Bobbie und Rick Peterson steht eine Galerie von Bildern. Sie zeigen eine junge, fröhliche Frau in Uniform, beim Grillfest und beim Bootfahren. Es ist das, was den Eltern der 27-jährigen Alyssa Peterson aus Flagstaff im US-Bundesstaat Arizona von ihrer Tochter bleibt - neben der Erinnerung an den Tag, an dem die Petersons eigentlich ihr Hochzeitsjubiläum feiern wollten. Hätten da nicht frühmorgens zwei Offiziere und der Pfarrer an der Tür geklingelt, um die Nachricht aus dem Irak zu überbringen: "Es tut uns sehr leid, ihre Tochter " Heute beschäftigt die Petersons nur eine einzige Frage: Warum? "Nichtfeindliche Schussverletzung"

Diese Frage bohrt umso heftiger, weil Alyssa nach dreimonatigem Frontdienst nicht im Gefecht oder durch eine der Bomben am Straßenrand starb, sondern durch "eine nichtfeindliche Schussverletzung". So drückt das Pentagon in Amtssprache meist jene Fälle aus, in denen ein Militärangehöriger entweder durch die Hand eines Kameraden starb oder sich entschloss, freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Bis heute tappen die Petersons im Dunkeln, kennen keine genauen Details der Todesumstände. Dem Fernsehen haben sie aber entnommen, dass bisher eine beunruhigende Zahl von Soldaten Selbstmord begangen hat - und das Verteidigungsministerium nun sogar 10 000 GI's auf ihre geistige Gesundheit untersuchen will, weil überlange Dienstzeiten und nahezu tägliche Bombenattacken ihre Wirkung auf die Moral der Truppe nicht verfehlen. Während US-Generalstabschef Richard Myers ständig betont, Verfassung und Dienstbereitschaft der Soldaten im Irak seien "exzellent", sprechen die Vorgänge an der Heimatfront längst eine deutlich andere Sprache. "Ein Akt des Betruges" überschrieb in der vergangenen Woche das Armee-Magazin "Army Times" einen bitterbösen Bericht, in dem US-Präsident George W. Bush vorgeworfen wurde, ausgerechnet jene im Stich zu lassen, deren Leben zu verbessern noch eine Kernaussage des Wahlkampfs im Jahr 2000 gewesen war - und beklagt vor allem Streichungen von Gehältern und Hinterbliebenenrenten für Angehörige Gefallener. Zuvor hatten Bush, Rumsfeld & Co. bereits erleben müssen, wie das gewöhnlich äußerst patriotische und unter Soldaten enorm populäre Militärmagazin "Stars and Stripes" von der Fahne gegangen war. Nachdem sich Frontsoldaten in einer Flut von Briefen über die Zustände im Irak und die politische Ungewissheit ihrer Dienstzeit beschwert hatten, schickte das traditionsreiche Blatt Reporter in mehr als 50 Truppenlager, um eine Umfrage zu starten. Das Ergebnis war niederschmetternd: Jeder zweite klagte über niedrige Moral in seiner Einheit, und ein Offizier fügte sogar Anmerkungen an, die wenig später in Millionenauflage angedruckt wurden: "Die Männer und Frauen heulen sich bei jedem aus, der ihnen zuhört. Sie schreiben Briefe, sie schreien, sie weinen. Wir kommen uns vor wie Bauernopfer in einem Schachspiel." Hinzu kommen offenbar bohrende Zweifel am Sinn der Mission. Jeder dritte befragte Soldat misst nämlich seinem Irak-Einsatz "wenig" oder "gar keinen Wert" zu. Ein Nationalgardist, über Nacht nach Bagdad abkommandiert, fasst die Gemütslage in "Stars and Stripes" mit den Worten zusammen: "Wir tappen im Dunkeln." Andere befürchten sogar eine massenweise Fahnenflucht: "Bringt uns nach Hause, oder es gibt einen Exodus", formulierte ein Hauptfeldwebel, der in den letzten zwei Jahren seine Familie nur ganze vier Monate gesehen hat und zuvor in Afghanistan diente. Doch mit einem schnellen Heimaturlaub wird es für die meisten US-Soldaten nichts werden: Nachdem gestern auch Japan eine zunächst geplante Entsendung von Truppen in den Irak angesichts der prekären Sicherheitslage hinausschob, ist Entlastung an breiter Front immer noch nicht in Sicht.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort