Einer des anderen Folterknecht

WITTLICH. (peg) Das hätte Jean-Paul Sartre gefallen: Existentialistisch bis ins Mark waren Darsteller und Publikum bei der Aufführung von "Geschlossene Gesellschaft" hinter Gittern und Stacheldraht.

 Brisante Sartre-Aufführung im Gefängnis: In der "Geschlossenen Gesellschaft" sind auch Bruni Kuhn (mit Locken) als Estelle und Helene Dax als Ines nichts weiter als die Hölle für die jeweils andere. TV-Foto: Petra Geisbüsch

Brisante Sartre-Aufführung im Gefängnis: In der "Geschlossenen Gesellschaft" sind auch Bruni Kuhn (mit Locken) als Estelle und Helene Dax als Ines nichts weiter als die Hölle für die jeweils andere. TV-Foto: Petra Geisbüsch

Diese war keine Aufführung wie jede andere. Als Regisseur Rainer Laupichler mit seinen Schauspielern den Pädagogik-Raum der Jugendstrafanstalt betrat, war klar: Hier gibt es besondere Räumlichkeiten, gewissermaßen aus der Zeit gefallene Lebenssituationen, und ein sehr besonderes Publikum. Strafgefangene, die zum Teil für viele Jahre hinter Gittern eingesperrt sind, eine "Geschlossene Gesellschaft" diesmal nicht nur auf der durch weggedrehte Stühle gekennzeichneten Bühne, sondern auch davor. Kein Entrinnen also für die Zuschauer ebenso wie für die Darsteller Bruni Kuhn (Estelle), Helene Dax (Ines) und Ingo Köhler (Garcin), die als schauspielerische Laien eine bemerkenswerte Leistung in der Zwangswelt Jean-Paul Sartres abgaben. Auf ewig qualvoll zusammengepfercht

Dort finden sich drei Menschen, die sich auf der Erde nicht kannten, nach ihrem Tod in einer Endlosschleife wieder. Auf ewig so qualvoll zusammengepfercht erkennen sie, dass ihnen keine Möglichkeit des Entkommens bleibt. Für den Rest der Zeit wird Ines ihren Garcin begehren und ihrerseits von Helene begehrt werden, auf immer wird der eine hören und sehen, sogar fühlen, was die beiden anderen tun. Die Lösungsansätze, die sich die Protagonisten auf der Erde ausgedacht hatten - Mord, Desertieren, Totschweigen - funktionieren nicht mehr: Die Hölle, das sind immer die anderen, stellen sie resigniert fest, und wir bleiben einer des anderen Folterknecht. In der anschließenden Diskussion sprachen die Gefangenen, von denen manche den Manderscheider Regisseur und Schauspieler bereits aus einer Theater-AG kannten, die Gefühle, die das Stück bei ihnen freisetzte, offen an. Dem einen war es buchstäblich körperlich zu eng geworden, er hätte sich eine Pause gewünscht, ein anderer, selbst Theaterwissenschaftler und begeisterter Tangotänzer, zeigte sich beglückt über diese Aufführung hinter Gittern, die erste seit geraumer Zeit, der er habe beiwohnen dürfen, und die so viele Parallelen zu seinem früheren wie zu seinem jetzigen Leben aufweise. Auch die Ermunterung für die Theater-Arbeit mit Laupichler ist gelungen. "Ich wollte euch zeigen, dass durchaus auch Laien schauspielen können", gestand er den Gefangenen. Und wie sie das konnten. Kuhn, Dax und Köhler muteten den Häftlingen mit ihrer konsequent schnörkellosen Art, Sartres ewige Folterknechte wiederzugeben, eine Menge zu und sollten damit Recht behalten. Das Stück berührte dieses Publikum noch tiefer und direkter als jedes andere: eine gewichtige Erfahrung auch für die Schauspieler. Die Theatergruppe von Rainer Laupichler sucht weitere Aufführungsmöglichkeiten ohne Gage. Kontakt per Mail: r.laupichler@web.de

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