Grass kommt ohne Casting rein

Etwa 3500 Bücher schafft die Stadtbibliothek Wittlich pro Jahr neu an. Doch wonach richtet sich die Auswahl? Und wie gelangt ein Buch dann vom Handel ins Büchereiregal?

 Elke Scheid, Herrin der Bücher, im Magazin der Stadtbücherei. TV-Foto: Christian Kraus

Elke Scheid, Herrin der Bücher, im Magazin der Stadtbücherei. TV-Foto: Christian Kraus

Wittlich. Was ist eigentlich ein Wittlicher? Nun, nach seinem Ausleihverhalten in der Stadtbücherei ein medizinisch interessierter Hobbygärtner, der seinen Seerosenteich selbst angelegt hat, lieber Berndorf als Böll liest, und dessen Kinder gerade mitten in ihrer Abiturvorbereitung stecken. Dieses statistisch nicht ganz unangreifbare Leserprofil ergibt sich, wenn die Leiterin der Stadtbücherei, Elke Scheid, über von den Entleihern häufig nachgefragte Titel spricht. Landschaft, städtische Einrichtungen, Autoren mit Bezug zur Heimat - was eine Stadt und deren Einwohner prägt, spiegelt sich nicht zuletzt im Bestand ihrer Bücherei wider. "Der Eifeler hat eben noch seinen Garten, den er hegt und pflegt - und seinen Teich. Von oben müsste Wittlich wie eine einzige große Teichlandschaft aussehen", begründet Elke Scheid das umfangreiche Angebot an Heim- und Gartenliteratur. Und für die Abiturienten dreier Gymnasien können sowieso nie genug Abihilfen da sein. Solche sozial- und wohnortbedingte, gewissermaßen "natürliche Interessen" sind für Scheid und ihre Kolleginnen ein wichtiger Maßstab, wenn sie aus den annähernd 100 000 Neuerscheinungen pro Jahr etwa 3500 Titel ins Sortiment der Bücherei neu aufnehmen. Besonders wertvolle Dienste bei der Auswahl leistet aber auch das "Lektoratskooperativ der Einkaufszentrale für Bibliotheken". Alle paar Wochen landet auf Elke Scheids Schreibtisch ein Stoß rezeptgroßer Zettel, auf denen Kollegen von ihr je ein Buch knapp zusammengefasst und bewertet haben. Ob den jüngsten Walser oder die neueste Heilkräuterkunde - von Welt- bis Fachliteratur dampfen die Profi-Leser den Inhalt eines Werks auf 15 knackige Zeilen zusammen. Der Vorteil liegt für Elke Scheid auf der Hand. "Diese Informationen stammen von Kollegen. Anders als die Verlage wollen die mir nichts verkaufen."Moderne Klassiker müssen dieses Casting natürlich ebenso wenig durchlaufen wie literarische Kassenschlager. Die neuesten Werke von Grass und Rowling haben schon vor der Veröffentlichung ihren Regalplatz sicher.Auch Tipps von Kunden werden berücksichtigt

Ohne die Anschaffung stets versprechen zu können, prüft die Bücherei aber auch die Tipps ihrer Kunden. Und obwohl Elke Scheid betont, dass "die Stadtbücherei nicht meine Privatbibliothek ist", prägt die Leiterin das Angebot ihrer Einrichtung dennoch mit. "Gewaltverherrlichende Schriften oder Bildbände über die ‚schönsten Maschinengewehre' möchte ich hier nicht haben."Die meisten ihrer Bücher erwirbt die Bibliothek dann im städtischen Buchhandel. "Wir leben vom Wittlicher Steuergeld. Das wollen wir zum Teil zurückgeben", sagt die Büchereichefin.Bevor die zur Zeit etwa 4200 Nutzer Bücher entleihen können, müssen diese noch mittels der "Allgemeinen Systematik für öffentliche Bibliotheken" registriert werden, die, wie Elke Scheid sagt, nichts anderes ist als "der Versuch von Bibliothekaren, das Wissen der Menschheit in Schubladen einzuteilen." Von diesem Arbeitsschritt zeugen die kryptisch anmutenden Buchstabencodes auf jedem einzelnen Buchrücken. Maria Bojarkin macht die Bücher dann endgültig "bibliothekfest", indem sie sie in durchsichtige Schutzfolie einschlägt und mit einem schmalen Sicherheitsstreifen versieht. Sie kam vor sechs Jahren nach Deutschland, weil sie in Kasachstan für ihre Töchter keine Zukunft sah. Ihren Job in der Bücherei macht sie auf Ein-Euro-Basis. "Das hier ist meine Welt", sagt die 55-jährige, die in ihrem Heimatland mal Lehrerin für deutsche Sprache und Literatur war. Dafür sei sie jetzt aber zu alt, bekam sie in der Arbeitsagentur zu hören. Marias Lieblingsschriftsteller ist Gotthold Ephraim Lessing, dessen Heldin "Emilia Galotti" sie auch schon auf der Bühne verkörpert hat. "Emilia Galotti" - in der Stadtbücherei übrigens zuletzt ausgeliehen am 23. März 2004.

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