Nostalgie trifft Grauen

Wittlich · Die Kulturamtsleiterin zieht Bilanz der Schau zur Kindheit in Wittlich in den 1950er Jahren

Wittlich 1643 Menschen haben die Ausstellung zur Kindheit in Wittlich in den 1950er Jahren gesehen. Kulturamtsleiterin Elke Scheid zieht ein Fazit: Die Schau habe deutlich gemacht, welch starke Veränderungen seither eingetreten sind. Die heute völlig veränderte Gesellschaftsstruktur sei besonders in den Fragen der Kinder deutlich geworden. Nun ist die Schau geschlossen: Was war im Nachgang das Besondere, das viele zum Besuch motivierte? Scheid Der Wiedererkennungswert in Kombination mit der starken Veränderung der Gesellschaft und der Stadt zu heute. Hat etwas überrascht?Scheid Überrascht hat mich, wie schwierig sich teilweise die Materialbeschaffung gestaltet hat. Beispielsweise existieren keine Einschulungslisten mehr. Was kann man über Reaktionen der Besucher sagen von den jüngsten bis zu denen, die selbst Zeitzeugen dieser Epoche sind?Scheid Kinder und junge Erwachsene waren völlig erstaunt über die für sie so fremde Welt und teilweise fassungslos über die Geschlechtertrennung sowie die übliche körperliche Züchtigung. Ältere Besucher haben sich an der Zeitreise und dem Schwelgen in alten Geschichten erfreut. Inwieweit zeigt sich, dass das Begleitprogramm von der Führung bis zum Vortrag wichtig ist?Scheid Von "kognitiver Dissonanz Reduktion" sprechen Psychologen, wenn Menschen - und zwar fast alle - Schreckliches aus ihrer Kindheit, Vergangenheit ausblenden. An die verlogenen Strukturen der Adenauerrepublik, die Nähe zum Faschismus, den teilweise grausamen Umgang mit Kindern zu erinnern, war wichtig. Die erläuternden Wandtexte alleine vermittelten die Grauen der 1950er Jahre nicht. Schulklassen von heute muss man vermitteln, dass in den 1950er Jahren quasi alle Kinder katholisch waren, protestantische Kinder gesondert unterrichtet wurden, Lehrer die Kinder schlugen. Wichtig war auch der Vortrag von René Richtscheid, in dem die soziale, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung in Wittlich von 1950 bis 1959 zusammengefasst wurde. Die Bilder der Ausstellung zeigten Momentaufnahmen, die mittels der Saaltexte im Kontext standen.Je nach Alter war die Schau nah am Menschen, der sich persönlich erinnern kann. Warum war das ausstellungswürdig? Scheid Der Ansatz war anders: Es existiert eine kommerzielle Wanderausstellung über Kindheit in der Nachkriegszeit, die bewegende Fotos zeigt. Aus der Kenntnis dieser Ausstellung entstand die Idee, so etwas für Wittlich zu entwickeln. Dass sich viele Menschen für die Ausstellung interessierten, ist eine erfreuliche Resonanz. Es war ja auch eine Art "Mitmach-Ausstellung", es wurde im Vorfeld um Exponate gebeten.Scheid Die meisten Exponate stammen aus den Sammlungen Dr. Klaus Petrys und dem Kreisarchiv Bernkastel-Wittlich. Lücken versuchten wir, durch den Presseaufruf an die Bevölkerung zu schließen. Erstaunlich war, über welche "Schätze" wie Kinderfotos, Bastelarbeiten, Schulhefte manche bald 70-jährigen noch verfügen.Inwieweit ist denn diese Schau womöglich "preiswert" gewesen?Scheid Die Erstellung der DIN-A-3 Bilder aus den winzig kleinen 1950er Jahre Fotos war schon aufwendig, auch die Recherchearbeiten. Die Sachkosten liegen bei rund 10 000 Euro. Hinzu kommen noch Personal- und weitere Nebenkosten. Es wurden keine Fachkräfte, wie Historiker, auf Honorarbasis beschäftigt. Was kann man durch die dokumentierte Zeitspanne an "Mehrwert" über lokale Histörchen gewinnen, wenn man sich eine Zeit noch einmal vergegenwärtigt?Scheid Lokale Histörchen wurden mir, wahrscheinlich, weil ich über Migrationshintergrund verfüge, nicht erzählt. Der "Mehrwert", die Erkenntnis der Ausstellung war, dass sich die Zusammensetzung der Bevölkerung völlig verändert hat. Bestanden Wittlicher Innenstadtklassen im heutigen Grundschulniveau Anfang der 1950er Jahre entweder nur aus katholischen Mädchen oder ausschließlich aus katholischen Jungen und in der 3. Parallelklasse aus ganz wenigen evangelischen Kindern, die zu gesonderten Zeiten auf einer gesonderten Fläche Hofpause genießen durften und separate Toiletten benutzen mussten, so sind in einem 4. Schuljahr heute etwa sechs katholische Kinder, zwei evangelische, zwei buddhistische, acht muslimische und einige zu keiner Religionsgemeinschaft gehörenden Kinder. Waren es in den 1950er Jahren ausschließlich "Biodeutsche", so verfügen heute 60 Prozent über Migrationshintergrund. Die völlig veränderte Gesellschaftsstruktur erschließt sich nur durch den Rückblick auf die Geschichte und ermöglicht Perspektiven für die Zukunft. Ein kurzes Fazit insgesamt …Scheid Die Ausstellung bereitete vielen Freude und hat Generationen miteinander verbunden. Wie oft beobachteten wir Großeltern, die Enkeln die Bilder und Gegenstände erklärten. Die Ergebnisse fließen in die Fortsetzung der "Geschichte der Stadt Wittlich" ein, so dass es auch hierüber eine Dokumentation geben wird. Persönlich waren für mich die Kommentare und Fragen der Kinder hochinteressant. Wie erkläre ich Neunjährigen, dass Jungen und Mädchen nicht zusammen spielen durften oder getrennt unterrichtet wurden? Warum durften Mädchen keine Hosen tragen? Und wo, so fragte ein Junge, waren denn in den 1950ern in Wittlich die Moslems?Interview Elke Scheid DIE NäCHSTE AUSSTELLUNG

Extra

"Leidenschaft für das Leiden - Christi Passion in der Kunst der Graphik von Dürer bis Jackson" vom 17. März bis 30. Juli stammt aus einer Privatsammlung. Elke Scheid: "Es sind faszinierende Bilder, die den Kindermord von Bethlehem und die Passion Christi zeigen. Grausame Bilder, Ansichten des unendlichen Leids und der Leidenschaft. "Passion" bedeutet im Deutschen beides, das Leiden und die Leidenschaft. Christus litt für seine "Leidenschaft", die Rettung der Menschheit. Heute bringen sich Menschen um, um weitere zu töten, für eine Leidenschaft, eine Ideologie. Die Ausstellung zeigt das meist interpretierte Motiv der Kunstgeschichte, sie ist 2000 Jahre alt und doch hochaktuell." Sie hoffe, dass in dieser traditionell katholischen Gegend das Thema vor Ostern und während der Fastenzeit viele anspreche.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort