Sehnsucht nach der alten Zeit

LANDSCHEID. (red) Beim Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema "Wo bin ich zu Hause" schaffte es Torsten Oster aus Landscheid (Erstlingswerk "Spurensuche", der TV berichtete), sich für eine Lesung beim Literaturfest in Mannheim zu qualifizieren. Osters Thema: Eine Landscheider Frau hat Sehnsucht nach ihrem alten Händlerwagen. Heute veröffentlichen wir den letzten Teil der zweiteiligen Kurzgeschichte.

Was bisher geschah: Hanna-Sofia, eine 98 Jahre alte Frau, die inzwischen im Rollstuhl sitzt, hat zum Landscheider Frühjahrsmarkt ihrem Sohn Richard mit Frau Hildegard und ihre Zwillinge zu Gast. Der Frühjahrsmarkt ist das Ereignis für die Frau, die zwei Weltkriege und mehr erlebt hat. Denn der Markt erinnert sie an ihre gute, alte Zeit, als sie selbst noch mit einem Händlerwagen durch Europa zog und auf Märkten ihre Produkte feil bot. Deshalb kann Sofi, wie sie von ihrer Familie genannt wird, den Abmarsch auf den Frühjahrsmarkt kaum erwarten und sitzt schon im Rollstuhl bereit. Ein ganzes Jahr hat sie darauf gewartet. "Pass doch auf du Trampel!" schrie Hildegard den kleinen Benjamin an, der mit seinem Lutscher Sofis Ärmel bekleckert hatte. "Lass das Kind", schützte Sofi ihren Enkel. "Misch dich nicht in meine Erziehung! Das hatten wir schon oft genug", fauchte Hildegard zurück. Sofi mochte Hildegard nicht besonders. Der Markt war erreicht, und Kirmesattraktionen lockten heute wie früher die Kinder zahlungswilliger Eltern - Karussells, Flohmarkt, Streichelzoo und Süßigkeiten. "Mami, Mami, dürfen wir auf die Schiffsschaukel?" fragte Benjamins Bruder Jasper auch gleich. "Einmal. Dann kommt ihr zum Wagen", sagte sie ihren Söhnen, drückte ihnen je fünf Mark in die Hand und ließ sie ziehen. Die Kinder eilten gleich fort. Kurz darauf stand Sofis Rollstuhl vor dem Wagen. Sofi hatte Tränen in den Augen. Ja, ‚Er' war wieder da. Der Wagen war eine der Hauptattraktionen des kleinen Marktes. Er stand vor einer Halle, und die Marktbesucher konnten sich ein Bild davon machen, wie die Händlerwagen vor etwa hundert Jahren einmal ausgesehen hatten. Vier große Wagenräder, darauf die Holzkarosse. An ihr hingen außen hunderte von Töpfen und Küchenutensilien. Vorne war der Kutscherbock, innen vier kleine Bettchen, ein Tisch und eine spartanische Küche. Nein, die Inneneinrichtung ließ weder Bequemlichkeit noch viel Platz vermuten. Es fehlten nur die Pferde, die ihn vor langer Zeit über Stock und Stein bis nach Königsberg hatten ziehen müssen. Der Wagen stand inmitten einer großen Menschentraube. Alle neugierigen Nasen, die einen Blick in das Innere riskierten, konnten ja nicht wissen, dass keine fünf Meter entfernt eine alte Frau im Rollstuhl saß, die in genau diesem Wagen ihr halbes Leben verbracht hatte. Sofi wurde es warm ums Herz. Tränen kullerten über die Falten auf der Wange hinab. Tränen, in denen sich Erinnerungen widerspiegelten, die so eindrucksvoll waren, dass man sie nie vergessen konnte. Tränen, die ein Meer an Erlebnissen bedeuteten und dahinflossen, wie die letzten Tage von Sofis Leben. Sie verfiel in die Vergangenheit: Jedes Jahr nach dem Frühjahrsmarkt ging es los. Die Händler zogen im März oder April aus dem Ort, in der Hoffnung, wieder vor dem Winter heil zurück kehren zu können. Ihre Reise war lang, beschwerlich und zugleich unglaublich aufregend. Jonas, der schwedische Junge, den Sofi in der Hansestadt Lübeck kennen gelernt hatte, Mutter Maria, die sich in Pommern eine Lungenentzündung zugezogen hatte, Tilsit, Danzig, Königsberg ... - Momentaufnahmen von Stationen auf einer langen Reise. Auf einmal schien es Sofi so, als wäre alles erst gestern passiert. Sie sah sich in der Glastür des Wagens und sah ein kleines junges Mädchen, dass neben dem Wagen herlief. Die Bilder tauchten wieder auf. Sie waren wieder da. Das Wiedersehen gab ihr die Kraft und den Willen für ein weiteres Jahr. Dieser alte Händlerwagen war über lange Jahre hinweg Sofis Zuhause gewesen - nein, mehr - für sie war er es immer noch. Torsten Oster

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