Von oben hat der Chef den Überblick

WITTLICH. Eine Stadt hat viele Gesichter, es kommt nur darauf an, wer wie darauf schaut. Deshalb haben wir uns mit einigen exponierten Bürgern unserer Stadt aufgemacht, die uns an ihrem ganz persönlichen Blick auf Wittlich teilnehmen lassen. Beginnen möchten wir unsere kleine Serie mit dem "obersten" Säubrenner: mit Bürgermeister Ralf Bußmer.

Eingeborene wissen, wie schwer es bis heute ist, den Makel des "Fremden" mit sich herum tragen zu müssen. Ralf Bußmer war ein solcher, als er aus der Nahe-Region Anfang der 90er Jahre in die Wittlicher Senke nach Wengerohr zog. Zwar hatte er gewissermaßen Übung im Umziehen. Deshalb tat er, was er immer getan hatte, wenn er in eine neue Stadt gekommen war. In jeder freien Minute erkundete er das Umfeld, mal zu Fuß, mal mit dem Fahrrad, denn sportlich war er immer. Auf seinen Touren entdeckte Bußmer manches Juwel, das viele junge Bürger schon gar nicht mehr kennen.Blick fürs Wesentliche nicht verlieren

"Mein Lieblingsspaziergang führt mich zum Tempelkopf", erzählt er begeistert, schnappt sich die wetterfeste Jacke, die Leine und Hund Ronja, und zieht strammen Schrittes los in Richtung Sportzentrum. Hoch über den Weinbergen, dort, wo der 50. Breitengrad gekennzeichnet ist, verschnauft er zum ersten Mal. Sein Blick schweift von Baustelle Nummer 1, dem Krankenhaus, über die komplette Stadt: Da sind der Neuerburger Kopf, die Oberstadt und der historische Stadtkern, Stadtpark, Schwimmbad, Baustelle Nummer 2, das Konversionsgebiet und Nummer 3, das Gefängnis. In der Ferne liegen die Fabriken, die Stadtteile, die Autobahn, und wenn das Wetter ihm hold ist, kann er bis zum Hunsrück sehen. Zu viele Details verstellen manchmal den Blick auf das Wesentliche, sagt er, und können entscheidungsunfähig machen. Damit das nicht geschieht, schaut er gerne und oft von dieser Höhe auf Wittlich. Nirgends erkenne man deutlicher, wie gut die Stadt erschlossen sei, nirgends auch lägen sämtliche Aspekte so klar auf der Hand: die alten Natur- und Kulturräume, die Geschichte und Nutzungsfacetten wie Städtebau, Wohnen, Handel und Industrie. Der 50. Breitengrad öffne Herz und Gedanken hin zum Rest der Welt, nach Südengland, Kanada, in die Mongolei und die Ukraine; da komme man mit Gästen richtig ins Philosophieren. Zum ersten Mal in Bußmers Bewusstsein getreten ist diese imaginäre Linie übrigens vor Jahren in Mainz, als er als 23-jähriger Schutzpolizist vor dem Theater Dienst schob. Wenn er Zeit hat, läuft der Stadtchef weiter, hinauf zum Tempelkopf, wo einst die Kelten siedelten, lange bevor die Römer an der Lieser auftauchten. Im Sommer ist es schwierig, sich die Perfektion dieser Wahl als Lebenszentrum vorzustellen, da der Berg damals komplett abgeholzt gewesen sein muss. Im Winter geht das leichter. Wieder schweift der Blick, wenn man die beiden schützenden Ringwälle aus aufgetürmtem Schiefergestein einmal überwunden hat, hinunter ins Liesertal, hinüber auf Pleins Reiberg. Bußmers Schritte folgen gerne seinem Blick, genauso, wie es war, als er den Tempelkopf vor Jahren entdeckte - unterwegs zur Alten Pleiner Mühle. Seit er den keltischen Ort entdeckte, macht er am liebsten den ganzen Rundweg: Erst steil hinauf vom Reitplatz hoch, dann im Bogen wieder hinunter zur Lieser und am Lieserpfad zurück zum Auto. Nur anderthalb Stunden brauche er dafür, wenn er mit dem Hund unterwegs sei. Wer ihm einmal hinterher geschnauft ist, glaubt es unbesehen.

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